Tag 100: Innovation und ein Abschied vom Mittelmeer

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9:00

Es ist nur ein weiterer Tag, doch trotzdem schwingt in der Zahl 100 eine gewisse Masse mit. Seit 100 Tagen, oder etwas über drei Monaten, bin ich mit dem Fahrrad unterwegs. Das ist etwa fünfmal so lang, wie meine bisher größte Tour.

In 100 Tagen kann viel passieren. Napoleon Bonaparte etwa schaffte es innerhalb von 100 Tagen von der Verbannung auf der Insel Elba bis auf den französischen Thron, nur um bei der Schlacht von Waterloo vernichtend besiegt zu werden und auf die noch weiter entfernt gelegene Insel Sankt Helena verbannt zu werden. Stichworte sind die „Hundert Tage Herrschaft“ und der „Flug des Adlers“.

Ich breche heute auch wieder auf – zwar nicht von Elba in Richtung Paris, sondern von Huelva in Richtung El Rocío, ein Ort, der als Inspiration für viele Westerns gedient hat.

Am Frühstückstisch habe ich aber noch einmal eine sehr spannende Diskussion mit Hugo. Auslöser ist ein Bericht im Fernsehen, über die stark steigenden Energiepreise.

Ich frage Hugo, ob das auch ein Problem für sein Unternehmen sei. Schließlich brauche man mit der künstlichen Beleuchtung ja eine große Energiemenge.

Hugo erzählt mir, dass sie all ihre Energie mit Solaranlagen gewinnen. Und sogar darüber hinaus, sein Unternehmen kann Energie ins Netz einspeisen.

Jeder Container hat einen Energiebedarf von etwa 2,5 kWh, während er Energie von etwa 5 kWh produziert. Auch das Wasser für die Pflanzen wird nicht etwa aus dem Boden gepumpt, sondern aus der Luft gewonnen.

Hugo ist überzeugt, dass es zwei elementare Herausforderungen gibt, für die wir Lösungen finden müssen. Einmal die Energiesicherheit, womit er auch die Versorgung mit Lebensmitteln (=Energie für Lernen, Arbeiten, Radfahren etc.) meint, andererseits die immer weiterwachsende Weltbevölkerung.

„Stellt man sich die Erdgeschichte vor wie ein Jahr, dann sind wir nur die letzte Minute“, sagt Hugo. „Und wir sind tatsächlich auf dem besten Weg, es bei dieser einen Minute zu belassen.“

Es ist ein Wettlauf zwischen Technik und Verhalten auf der einen Seite, und der drohenden Unbewohnbarkeit des Planeten auf der anderen. Aber Hugo wäre nicht Hugo, wenn er es nur bei dieser Analyse belassen würde. Wir fangen an über konkrete Innovationen zu reden. Und Innovation ist Hugos Leidenschaft.


Energie

„Ich finde die Forschung an neuen Batterien und Batteriematerialien extrem spannend“, sagt Hugo. „Wir müssen weg von seltenen Erden, und auch für Lithium müssen wir Alternativen finden. Sonst begeben wir uns wieder in einer Abhängigkeit bei einem elementaren Rohstoff, genau wie das im Moment bei Russland der Fall ist. Denn die Vorkommen von seltenen Erden und Lithium liegen allesamt in Staaten, die nicht mit unserem Staatsverständnis übereinstimmen.“

„Das Fraunhofer-Institut in Deutschland hat zum Beispiel eine faszinierende Innovation entworfen: Power Paste, ein auf Magnesium basierendes Batteriematerial, dass zehnmal so effizient wie Lithium ist.“

„Auch im Zusammenhang mit der Energiegewinnung aus Wasserstoff ist viel Luft nach oben. Ich hatte mal ein Projekt, wo wir versucht haben, mit Salzwasser den chemischen Prozess zu betreiben. Letztlich hatten wir aber nicht die Finanzierung, um genug zu forschen.“

Ich bemerke: „Man müsste als Regierung wieder Wettbewerbe ausrufen, mit sehr hohen Prämien, für Projekte, die als äußerst wichtig gelten. Das gab es ja schon in der Vergangenheit mit Erfolg, zum Beispiel beim ersten Flug über den Atlantik. So etwas kurbelt die Innovation an.“

„Stimme ich voll mit überein“, sagt Hugo. „Insgesamt ist der Wettbewerb zwischen Ideen, der wichtigste Treiber der Innovation. Deshalb finde ich es auch so schlecht, wenn Unternehmen riesig groß werden. Viel wichtiger ist, statt immer weiter in die Höhe zu wachsen, das Unternehmen sich ein Ökosystem schaffen, wo innerhalb dieses Systems geforscht wird und Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Gruppen herrscht.“

„Auch dass es zwischen den Unternehmen und den Universitäten einen guten Austausch gibt, ist relevant: das hat Deutschland immer sehr gut geschafft, und das ist für mich auch einer der Hauptfaktoren, warum Deutschland so erfolgreich in der Forschung und Entwicklung ist.“

„Ich denke aber auch“, sagt Hugo, „dass wir in 20 Jahren mit der Kernfusion so weit sind, dass es günstige, klimaneutrale Energie im Überfluss gibt. Das wäre eine Revolution.“

„Man spricht doch von einer künstlichen Sonne“, werfe ich ein. „Genau“, meint Hugo. „Die Vorstellung ist unglaublich. Jahrhunderte führte man Kriege wegen Ressourcen: erst Land und seltene Metalle, später immer häufiger Energiequellen. Und klar, der Grund ist ersichtlich, denn Energie ist der Grundpfeiler der Wirtschaft.“

Keine Energie, kein warmes Wasser, kein Essen, kurz gesagt – alles was das Leben erst über eine Höhlenexistenz hinaus ermöglicht.

„Was ein Energiemangel ganz konkret bewirkt, sieht man bei unterernährten Kindern. Mit der Food and Agriculture Organisation der UN arbeite ich zusammen an einigen südamerikanischen Projekten. 15 Millionen Kinder sind dort unterernährt. Ihr Essen besteht oft aus nichts anderem als Kartoffeln. Dass sie überhaupt keine Energie haben, um zu lernen, ist klar. Hunger ist nach wie vor ein riesiges Problem.“


Nanotechnik und Genscheren

Die Nanotechnik, also die Fähigkeit Stoffe zu entwickeln und zu bearbeiten auf atomarer Ebene, wird ganz neue Möglichkeiten in Bereichen wie der Computer Technik und der Medizin ermöglichen.

Insbesondere im Bereich der Medizin, genau wie Josef aus Aljezur, sieht Hugo großes Potenzial durch die Genschere Crisp-R, „Das ist wie Copy – Paste im Genom“, sagt Hugo.

„Da ist zum Beispiel ein Bereich, der für eine Insulinunverträglichkeit verantwortlich ist? Gut, dann wird er eben entfernt und durch eine korrigierte Version ersetzt.“

Es gibt aber Konsequenzen: „Das Gesundheitssystem würde nochmals teurer werden, wenn solche Therapien großflächig Einzug finden.“


Verhalten

All diese Technik wird unserem Planeten zwar in Richtungen verändern, die wir uns heute noch gar nicht ausmalen können.

Wenn wir unser Verhalten aber nicht verändern, fahren wir trotzdem den Planeten gegen die Wand.

„Besser gesagt“, meint Hugo, „fahren wir das menschliche Leben an die Wand. Das Leben auf dem Planeten wird natürlich weitergehen. Die Erde hat schon viel schlimmere Ereignisse erlebt als das, was wir gerade bewirken.“

„Wie sieht so eine Verhaltensveränderung denn aus?“, frage ich.

„Wir müssen uns dort, wo es geht, mehr auf das Lokale besinnen“, sagt Hugo. „Das heißt, was vor Ort produziert werden kann, soll auch dort hergestellt werden. Insgesamt müssen wir herunterskalieren. Ewiges Wachstum gibt es nicht, davon müssen wir weg.“

Das Problem, das ich sehe, ist folgendes: Man kann den Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika, die zum ersten Mal einen wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt haben ja nicht verbieten, nicht einfach sagen: So ihr könnt jetzt kein Auto mehr haben, weil das jetzt nicht mehr geht und schlecht für den Planeten ist. Wir haben zwar so gelebt, aber ihr dürft es nicht mehr.

In meinen Augen ist es ziemlich klar, dass die heutigen weniger entwickelten Länder eine ähnliche Entwicklung durchlaufen werden, wie es die westlichen Wirtschaften auch getan haben.

„Ich sehe das ähnlich“, meint Hugo. „Und deshalb ist es umso wichtiger, dass nachhaltige Energie und Produktionsverfahren so wirtschaftlich wie möglich sind.“


Dystopie

„Wenn wir über Zukunftsszenarien reden“, sage ich, „halte ich es für nicht ganz unwahrscheinlich, dass es in irgendeiner Form ein natürliches Korrektiv gibt. Ein ansteckenderes Ebola, oder anderes.“

„Ja, durchaus denkbar“, findet Hugo. „Ich erinnere mich an einen Film, den ich einmal gesehen habe, wo die Pflanzen anfingen giftige Stoffe auszusondern, die letzten Endes die Menschen in den Suizid trieben. Das irre ist, das gibt es wirklich.“

„Nicht bei Menschen, sondern bei Ameisen. Eine ganz bestimmte Baumart im Amazonas sondert Botenstoffe aus, die das Verhalten der Ameisen so verändern, dass sie den Baum verteidigen und schließlich an Überhitzung zu Grunde gehen. Die Leichen dienen dem Baum dann als Nährstoff. Ist das nicht ein faszinierender Kreislauf?“

„Mich erinnert das an das Buch, „Das geheime Leben der Bäume“, erzähle ich. „Vor einigen Jahren war es in Deutschland ein Bestseller. Die Kommunikation der Pflanzen, etwa über Pilze, ist atemberaubend.“

„Ja“, sagt Hugo. „Da war ich mal in einem Projekt involviert, das den Mycel von Pilzen erforscht hat. Das ist das Wurzelgeflecht der Pilze. Es ist ganz ähnlich aufgebaut wie unser Gehirn, ist also ein neuronales Netzwerk. Informationen können fantastisch schnell durch dieses Netzwerk weitergeleitet werden!“

Einen letzten interessanten Aspekt bringt Hugo noch ein. „Was ich am erstaunlichsten finde, ist wie viele der weltbewegenden Entdeckungen durch Zufall geschehen sind, oder erst für ganz andere Bereiche gedacht waren. Penicillin ist nur ein Beispiel. Das macht es auch so schwierig die Zukunft der Innovation vorherzusehen.“

Es bleibt also spannend.


Etwas später laden wir mein Fahrrad ins Auto, und Hugo fährt mich auf die andere Seite von Huelva. Dort angekommen, stelle ich fest, dass ich meine Gummihalter vergessen habe. Doch mit ein bisschen Segelschnur, die bei Hugo im Kofferraum war, können wir notdürftig Ersatzhalter fertigen. Hugo meinte nur: „Das ist das Leben von einem Backpacker, Probleme haben und Probleme lösen.“

Wir verabschieden uns ganz herzlich und dann mache ich mich auf den Weg nach El Rocío.

Es waren schöne, spannende Tage bei Hugo und seiner Familie. Jetzt bin ich endgültig auf dem Rückweg. Es geht in Richtung Nordosten. Das Mittelmeer werde ich auf dieser Radtour vermutlich nicht mehr sehen.

17:30

Um etwa 17:30 Uhr treffe ich in El Rocío ein. Kurz vorher habe ich noch einen 80-jährigen getroffen, der mir erzählte, wie er in den Sechzigern fünf Jahre lang als Hippie nach Indien getrampt sei. „Zum Schluss ging mir der Bart bis zur Hüfte!“

Im Vergleich dazu sieht der ältere Herr heute richtig brav aus: rasiert und kurze Haare. Heute hat er mit Pilgern zu tun, denn er leitet eine Pilgerherberge in Sevilla.

Er selbst ist den Camino auch schon acht Mal gelaufen. „Wenn man einmal anfängt mit dem Reisen“, erzählt er mir, „dann hat man es im Blut. Immer wenn ich hibbelig werde, sagt meine Frau: ‚So, zieh mal deine Wanderschuhe an und geh ein paar Tage spazieren!‘ Und den Rat seiner Frau darf man natürlich nicht ablehnen. Deshalb wandere ich jetzt auch vier Tage durch die Gegend von El Rocío.“

El Rocío selbst ist aufgebaut wie eine Westernstadt und diente auch als Inspiration für viele Hollywood-Filme. Auch als Wallfahrtsstadt ist El Rocío bekannt. Es gibt keine geteerten Straßen und rund um Pfingsten tummeln sich tausende Reiter in dem Ort (Es gibt etwa 1600 Einwohner, doch kommen jährlich etwa eine Million Pilger vorbei). Bei 36°, Sonne und dazu an einem unbedeutenden Freitag ist allerdings nicht so viel los, und ich kann ganz gemütlich durch den Ort spazieren.

21:30

Die letzten 35 km des Tages bin ich in den Sonnenuntergang hineingefahren, auf seidig-glatten Straßen. In einer großen Mandelbaumplantage mache ich für die Nacht halt.

Ich möchte unter freiem Himmel schlafen, da die Temperatur sehr mild ist. Außerdem möchte ich morgen bei der zu erwartenden Hitze früh los, und wer unter freiem Himmel schläft, muss auch nicht viel zusammenpacken.

Morgen werde ich mir die Minen am Rio Tinto anschauen, die in Europa zu den größten ihrer Art zählen.

Hasta mañana und gute Nacht!

Ein bisschen was zu Essen zum Sonnenuntergang.

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