Tag 110: Gedichte, Gastfreundschaft und Geschichten

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Um 5:30 Uhr geht’s los: Der Tag verspricht ein Hitzemonster zu werden. Ich entscheide mich, meine geplante Strecke zu verlassen. Stattdessen nehme ich kleinere Landstraßen, aber keine Schotterwege. Das macht das Fahren deutlich angenehmer. Ich entdecke so per Zufall eine sehr schöne mittelalterliche Stadt namens Sepúlveda.

Sepúlveda ist mitten in einer Schlucht gelegen, fast wie ein kleiner Grand Canyon. Hier kaufe ich ein Baguette und einen Eichen-Honig (Miel de Roble). Diesen Honig hatte ich schon in Lissabon bei Rita und Mário probiert, und schon damals hat er mir ausgesprochen gut geschmeckt.

Der Honig ist dunkel und dickflüssig, mit einem starken, aromatischen Geschmack. Seltsamerweise, obwohl der Honig von Eichenblüten stammt, meine ich einen feinen Hauch von Eukalyptus zu schmecken. Andere Feinschmecker sagen, der Honig schmeckt etwas malzig.

Ich hangele mich von Dorf zu Dorf durch, erklimme einen 1300 m hohen Berg, und lande schließlich in Aldeanueva de la Serrazuela. Dort sitze ich nun in einer tollen Kneipe – Ein deutscher Biergarten mitten in der spanischen Wüste.

Bis auf ein einige betagte Herren, die zusammen einen Wein trinken und sich laut lachend unterhalten, habe ich die paradiesische, grüne Oase für mich allein. Das muss gebührend gefeiert werden, denke ich mir, und so gönne ich mir eine Cola und ein Eis. Ich notiere meine Erlebnisse, und schreibe die ersten vier Verse von Schillers Bürgschaft in mein Heft.

Gelegentlich, wenn mir wirklich nichts Besseres einfällt, lerne ich dann ein Gedicht auswendig. Einfach, um das Gedächtnis auf Trab zu halten. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass man in der Schule öfter Gedichte auswendig lernen sollte, um sie dann vorzutragen. Kaum etwas schult besser die Fähigkeit vorzutragen; kaum etwas verdeutlicht besser den Einfluss der Sprachmelodie auf die Zuhörer. Außerdem lernt man, sich auf sein Gedächtnis zu verlassen – was vielen in meiner Generation vollkommen abhandengekommen ist.

Wir sollten unser Gedächtnis nicht immer „outsourcen“ – Denn damit begeben wir uns in die Knechtschaft unseres Handyakkus. Wenn unser „persönlicher Putin“ den Strom verweigert, sehen wir nämlich genauso alt aus, wie gerade mit dem Gas.

Darüber hinaus gibt es noch viele andere gute Gründe, das Auswendiglernen nicht zu verteufeln. An anderer Stelle werde ich mal eine Erörterung vornehmen.

Wer mit dem, was er sagt, etwas bewirken möchte, kann viel von Gedichten lernen. Schade, dass der lebendige Aspekt der Gedichte in der Schule unter einer Lawine stumpfer Gedichtsanalysen begraben wird.

Jetzt werde ich aber erstmal die Kneipenwirtin fragen, ob sie eine Steckdose hat, wo ich meine Geräte aufladen kann. Denn ohne Akku würden natürlich auch diese Blogbeiträge ausfallen, genauso wie meine Fähigkeit mit möglichen Gastgebern Kontakt aufzunehmen. Auf meine Frage antwortet die Kneipenwirtin mit einem schwungvollen: „Natürlich!“

Ich sitze einige Stunden im Biergarten und bestelle mir zu Abend einen Burger. Ich weiß, dass ich hiermit ein Risiko eingehe, meinen Magen zu überfordern, aber der Hunger übermannt den Verstand. Das Primat von Affekt über Verstand schlägt zu.

Als ich bezahlen möchte, wimmelt die Kneipenwirtin ab. Stattdessen sagt sie mir: „Schau mal, da sind gerade eben Gäste gekommen, wo eine von den Frauen selbst aus Deutschland kommt.“

„Das ist ja lustig“, sage ich, „Ich werde sie mal ansprechen!“

So mache ich Bekanntschaft mit Doris, Marie-Angeles und Margarita. Maries Tochter Helena ist auch mit dabei. Die fünfjährige rennt freudig quiekend immer wieder durch die Rasenbewässerungsanlage.

Wie in Spanien oft üblich, essen wir kleine Häppchen. Ein Teller mit gerösteten Kartoffeln, einer mit Oliven, einige Rippchen und Weißbrot.

Es stellt sich heraus, dass Doris aus der Rheinpfalz kommt und seit 32 Jahren in einem Nachbarort wohnt. Was sie erzählt, hört sich bekannt an:

„Es war die Liebe, deswegen bin ich hergekommen. Mein Mann starb schon vor 21 Jahren, aber ich bin geblieben.“

Margarita erzählt, dass sie 81 ist. Auch sie wohnt in dem Dorf, wo Doris lebt.

„Im Winter leben dort 22 Menschen“, sagt sie. „Die meisten davon sind Witwen.“

Und lachend sagt sie zu mir: „Irgendetwas macht ihr Männer falsch, dass ihr immer als erstes sterbt.“

Marie-Angeles ist über ein paar Ecken und Enden, die ich nicht ganz verfolgen kann (die Wirren einer spanischen Großfamilie) mit Margarita verwandt. Sie ist aber nur zu Besuch hier – normalerweise lebt sie in Barcelona.

Marie-Angeles ist ausgebildete Krankenschwester und Polizistin, und hat mit dem Motorrad schon so ziemlich jede Region in Spanien bereist. Auch in Afrika war sie unterwegs, aber nicht mit dem Motorrad:

„Ich arbeite nicht immer als Polizistin, sondern engagiere mich auch sozial als Krankenschwester“, erzählt sie mir. „Da war ich ein halbes Jahr mit einem Projekt in Gambia, wo wir versucht haben zu helfen und grundlegende medizinische Versorgung anzubieten.“

„Wie waren dort in die Zustände?“, frage ich.

„Also, in dem ganzen Land gibt es genau eine geteerte Straße. Das ist schon mal ein ganz guter Indikator für den Entwicklungsstand. Als wir unsere Klinik aufgebaut haben, sind Menschen 30 km hergelaufen, die in ihrem ganzen Leben noch nie ein Arzt gesehen hatten. 40-jährige sahen aus wie 70-jährige, sie hatten wegen ihrer Mangelernährung oft Krankheiten.“

„Was waren so die häufigsten Beschwerden?“

„Am häufigsten haben wir Bindehautentzündungen behandelt: denn die Augen der Menschen waren den ganzen Tag ungeschützt der brennenden Sonne ausgesetzt. Mit den schrecklichen Folgen. Wir haben einen ganzen Container Sonnenbrillen verteilt, vielleicht war das sogar die wirkungsvollste Maßnahme des ganzen Projekts.“

Wie bei vielen anderen Entwicklungsprojekten fehlte auch hier der langfristige Horizont. Das sagt Marie Angeles auch: „Wir sind ja nach einem halben Jahr wieder gegangen und die Medikamente, die wir geben konnten, reichten oft nur für eine Woche. Für jemand mit chronischen Schmerzen ist das natürlich nur ein schwacher Trost. Aber trotzdem glaube ich, konnten wir viel Gutes bewirken und aus dieser Arbeit schöpfe ich immer viel Energie.“

Wir unterhalten uns den ganzen Abend lebhaft. Schließlich fahren die Frauen zurück nach Hause, und ich mache einen zweiten Anlauf, zu bezahlen. Wieder wimmelt die Kneipenwirtin ab.

Stattdessen passiert etwas, was ich nur als Radfahrerglück titulieren kann. Die Wirtin sagt: „Wenn du möchtest, kannst du die Nacht bei uns verbringen. Gratis natürlich! Wir haben ein freies Zimmer.“

Ein solches Angebot kann ich unmöglich ablehnen. Die Wirtin zeigt mir das urig eingerichtete Hotel und ich weiß Mein Glück kaum in Worte auszudrücken. Der höchste Genuss wird die säubernde Dusche und ein bequemes Bett sein! Bis morgen!

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