Tag 111 und 112: Berge, Geierfedern und ‘Made in Germany’

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Tag 111

Die Nacht in dem Hotel war herrlich! Oft kenne ich es von Hotels, dass die Matratzen total weich sind, man einsinkt und am nächsten Morgen mit irgendwelchen lästigen Verspannungen aufwacht. Doch hier war das Bett schön hart, fast so wie meine Isomatte, und ich wache gegen 7:00 Uhr frisch, munter und erholt auf.

Erst kommt ein bisschen Körperpflege, dann esse ich Frühstück. Ich verschlinge Obst und Croissants, auf die ich einen köstlichen Mischblüten-Honig aus der Region schmiere. Das ist eine Freude, und genau der richtige Start in den Tag!

Ich bin der einzige Gast in dem antiquarisch eingerichteten Frühstückssaal. Die Wände sind mit Holz getafelt, und in der einen Ecke des Raumes ist ein großer Kamin. Der Bruder der Frau, die mich gestern eingeladen hat, arbeitet auch im Hotel und macht mir einen Kaffee.

„Hast du gut geschlafen?“, fragt er mich. „Blendend“, gebe ich ihm ganz ehrlich zur Antwort.

„Wo geht’s heute hin?“

„Ich werde nach Amanda El Duero fahren, und dann in Richtung Burgos radeln.“

Der Hotelwirt verlässt den Raum, und ich frühstücke genussvoll zu Ende.

Bevor ich gehe, schreibe ich noch ein paar Zeilen in das Gästebuch. Um kurz vor zehn sitze ich wieder im Sattel und fahre erst mal 10 km nur bergab. Auch dieser Teil vom Tag fängt schon richtig gut an. Es verspricht heiß zu werden, und schon jetzt zeigt das Thermometer etwas über 30° an.

Es steht mir aber nichts mehr im Wege: Ich bin gut erholt, gut genährt und mit meine Magen- und Darmbeschwerden scheinen endlich endgültig hinter mir zu liegen.

Nach etwa 20 km spricht mich ein Mann an, dass ich vergessen habe mein Licht auszuschalten. Dieses Phänomen ist mir schon unzählige Mal in Spanien begegnet, nur hatte ich es immer wieder vergessen aufzuschreiben. Mein Licht wird über ein Nabendynamo mit Strom versorgt. Es hat zwar ein An-/Ausschalter, ich lasse es aber im Automatikmodus, wo ein Helligkeitssensor die Leuchtstärke an die Umgebung anpasst. Das erzeugt keinen spürbaren Widerstand und wenn ich zum Beispiel in einen Tunnel fahre, muss ich nicht an Licht denken.

Immer wenn ich fahre, brennt also mindestens mein Tagfahrlicht. Zwar schwach, aber doch so, dass man es sieht. Das ist auch gar nicht verkehrt so, denn ein unachtsamer Verkehrsteilnehmer bemerkt vielleicht das Licht eher als den Radfahrer.

Interessanterweise scheint das Konzept des Dynamos in Spanien aber relativ unbekannt zu sein. Mir sind jedenfalls schon einige Menschen begegnet, die gänzlich fasziniert waren, dass ich meinen Strom durch meine Radnabe produzieren kann.

Könnte es sein, dass der Dynamo eine deutsche Erfindung ist?

Fast. Ein deutscher Auswanderer namens Alois Sanladerer patentierte das Prinzip im Jahr 1913 in den USA. Kommerziell verkauft wurden sie ab den 1930er Jahren in England und konkurrierten mit anderen Lösungsansätzen, wie dem Seitenläufer- oder Rollendynamo. Ab den 1990er Jahren konnte sich das Nabendynamo zunehmend gegen die Konkurrenz durchsetzen und wurde endgültig zum Mittel der Wahl, um Strom am Fahrrad zu produzieren. Zumindest in Deutschland.

Ich fahre weiter, immer Landstraßen folgend. Bald bin ich in der Sierra de la Demanda, wo ich schon vor zwei Monaten – damals bei dichtem Nebel – geradelt bin.

Zwischen 16:00 und 18:00 Uhr mache ich eine Pause, wo ich im Schatten eines großen Nussbaumes gammel. Dann fahre ich weiter, vorbei an schroffen Granitfelsen. Über mir kreisen die Geier. Als ich die grauen Monolithe genauer betrachte, sehe ich, dass in den Felskuhlen die Geier auch nisten.

Ich bekomme eine Idee: wenn dort Geier nisten, dann sind dort bestimmt auch Geierfedern. Es gibt einen Wanderweg, der ganz nah an den Felsen vorbei führt. Und siehe da, nach etwas suchen werde ich fündig!

Zwei Federn, eine Schwungfeder und eine breitere Flügelfeder sind noch in gutem Zustand erhalten. Sie werden mitgenommen! Sie sind wirklich riesig: die Schwung Feder muss mindestens 50 cm lang sein und der Federkeil ist bestimmt 1 cm dick. Nur wie kann ich die Federn transportieren, ohne sie kaputt zu machen?

Nach einigen Kilometern komme ich auf die rettende Idee. Ich nehme Kabelbinder und befestige die Federn einfach an meinem Helm. Jetzt bin ich der Asterix-Biker! Die Federn werden mir Flügel verleihen.

Jetzt ernte ich natürlich überall belustigte oder bewundernde Blicke. Manch einer denkt sich bestimmt, ich sei verrückt. Autos fahren langsam neben mir her, damit die Passagiere einen Blick auf meine Federn erhaschen können oder gar ein schnelles Foto knipsen. Hoffentlich baut niemand einen Unfall wegen der Federn…

Und wenn es so wäre, den Geiern würde es in die Karten spielen…

Die Nacht verbringe ich in der Nähe von einem verlassenen Bahnhof. Alles ist zerfallen, der Putz bröckelt von den Decken. In den Räumen liegt viel Müll, Bierdosen und einige verschimmelte Sessel stehen auch herum.

Ich schlage mein Zelt auf einer Wiese auf, wo eine kleine Hütte steht. Ich telefoniere und gehe dabei eine Runde spazieren und als ich in der Dunkelheit zurückkomme, sehe ich: in der Hütte brennt Licht! Wohnt in ihr etwa jemand? Ich schaue durchs Fenster, heimlich leise, und erkenne eine Pritsche. Auf der Pritsche ist eine Isomatte, aber auf der Isomatte ist kein Mensch.

Vielleicht läuft er ja noch herum… Gar keine schöne Vorstellung! Das Kissen, das auf der Pritsche liegt, ist mit Totenköpfen bedeckt. An der Wand hängt ein pornographisches Poster, auf dem mehrere Frauen ihre vollen Brüste zur Schau stellen.

In dem Moment knackt es hinter mir. Ich drehe mich blitzschnell um, doch da ist niemand. Höchstens eine streunende Katze.

Der Einrichtung der Hütte nach zu urteilen, ist sie für die Mittagssiesta gedacht. Hier wohnt niemand – da bin ich mir nach einigem hin- und herüberlegen sicher. Und einen anderen Schlafplatz will ich in der Dunkelheit auch nicht suchen, zumal ich dafür mein Zelt wieder abbauen müsste.

Ich entscheide mich also zu bleiben, und habe eine ruhige und erholsame Nacht.

Tag 112

Um 7:00 Uhr bin ich mit dem Geierhelm auf der Piste. Heute werde ich einmal die Sierra de la Demanda durchqueren, bis ins Rioja-Tal.

Zunächst ist es aber schweinekalt – sogar mit Fließjacke habe ich Gänsehaut. Und das, zu einer Zeit, wo Spanien unter einer 40° Hitzewelle ächzt. Ja, die Berge sind schon richtige Klimaanlagen.

An einem kleinen Anstieg wenige Kilometer später überholt mich ein älterer Rennradfahrer und stellt sich als Hugo vor. Als er von meiner Reise erfährt, sagt er, so etwas habe er selbst noch vor.

„Ich bin schon in Rente“, erzählt mir Hugo. „Meine Frau ist aber fünf Jahre jünger als ich, und deshalb muss ich noch ein bisschen warten, bis wir gemeinsam losziehen können. Bis dahin muss der Körper durchhalten.“

Hugo klopft sich auf den Bauch.

„Ich esse halt mindestens genauso gerne, wie ich Fahrrad fahre. Also muss ich achtgeben, dass ich nicht zu dick werde, um eine solche Reise zu machen!“

„Also Finger weg von den deutschen Bratwürsten“, scherze ich.

Hugo lacht: „Und die Liebe ich so sehr…“

„Wo würdest du denn am liebsten die Reise machen?“, frage ich.

„Mein Traum wäre von Patagonien bis nach Alaska hochzuradeln.“

„Das ist eine ganz schöne Strecke!“

„Als Rentner haben wir ja Zeit“, antwortet Hugo.

Kurz darauf erzählt mir Hugo, dass er schon einige Mal in Deutschland war. Jedes Mal beeindruckte ihn das kulturelle Angebot. „Für 20 € konnte ich ein ganzes Konzert der Berliner Philharmoniker sehen“, ruft er. „Hier würde das 200 € kosten!“

„Die großen deutschen Komponisten, ich vergöttere sie. Beethoven ist mein absoluter Lieblingskomponist. Diese emotionale Spannbreite in seinen Stücken, von schwarzer Melancholie bis hin zu gipfelnder Euphorie ist einfach nur magisch.“

Hugo fragt mich, warum die Deutschen Spanien so mögen.

„Ich glaube, es ist weil Spanien so eine Art Gegenpol ist zu Deutschland. In Deutschland herrscht Ordnung, Pragmatismus und Wolkenwetter. Spanien ist locker, lebenslustig und sonnig. Urlaub in Spanien ist wie eine Pause vom Deutschsein.“

„Aha“, sagt Hugo. „Das erklärt, warum so viele Deutsche nach Spanien kommen, um einfach nur zu entspannen. Die Engländer feiern lieber. Auch in Deutschland habe ich das besondere Verhältnis von euch zu Spanien gespürt: überall hat man mich freundlich aufgenommen und willkommen geheißen.“

„Wenn ich ein bisschen intelligenter wäre, würde ich mich auch noch mit den deutschen Philosophen beschäftigen. Aber das übersteigt leider meine bescheidene Birne.“ Hugo tippt sich an die Stirn.

Später erzählt mir Hugo, dass er gerne Pilze sammelt. „Ich nehme dann mit dem Fahrrad eine Tüte mit. Aber besser wäre es natürlich mit einer Tasche, wie du sie an deinem Fahrrad hast“.

„Ja, das ist richtig“, antworte ich.

Hugo deutet auf die deutsche Fahne, die auf meinem Rahmen angeklebt ist. „Das ist ein deutsches Fahrrad, oder?“

„Ja, aus den neunziger Jahren. Das ist stabil, auch wenn es nicht das Leichteste ist.“

„Ja, die deutsche Ingenieurskunst ist wirklich meisterhaft!“, schwärmt Hugo.

„Ich war am Tag der Deutschen Einheit in Berlin und dort gab es eine Demonstration zwischen linken und rechten Gruppierungen. Es war so viel Polizei da! Das hätte ich nicht in Deutschland erwartet.“

Ich versuche eine Erklärung: „Ich glaube man hat große Sorge, dass es wegen der angespannten Stimmung zwischen den Lagern zu größeren Gewaltausschreitungen kommen könnten. Das würde nicht so wirklich zum deutschen Ideal von Stabilität passen.“

„Stimmt. Dafür stand ja Merkel. Aber wenn man anschaut, wieviel ihr erfunden habt, und was für künstlerische Meisterleistungen die Deutschen erbracht haben, dann müsst ihr auch fähig zu großen Emotionen sein! Es gibt ein berühmtes Sprichwort von Orson Welles*: ‚Italien hatte unter den Borgias 30 Jahre Krieg, Mord und Terror, und sie brachten Leonardo Da Vinci, Michelangelo und die Renaissance hervor. Die Schweiz hatte 500 Jahre Brüderlichkeit, Frieden und Demokratie. Und was ist daraus hervorgegangen? Die Kuckucksuhr!‘“ (*US-Amerikanischer Filmregisseur, 1915-1985)

„Was ich sagen will“, meint Hugo, „ist, dass man für große Leistungen auch große emotionale Schwankungen braucht. Stabilität ist da kontraproduktiv. Mein geliebter Beethoven ist doch das Paradebeispiel!“

Wenn das mal kein interessanter Gedanke ist. Ich stimme dem komplett zu – es ist etwas, was ich auch an mir selbst beobachtet habe.

Nachdem ich mich von Hugo verabschiedet habe (wir sind fast 30 km zusammen gefahren: Hugo hat mich mit seinem Rennrad echt herausgefordert) geht es nur noch bergab. 20 km rolle ich fast ohne zu treten, dann mache ich eine kleine Badepause in einem Stausee. Nochmals 5 km weiter setze ich mich in ein Café, esse ein Brötchen und schreibe diesen Text. Im Hintergrund rauscht einlullend ein Bergbach.

Schon bald komme ich in die Ausläufer der Sierra de la Demanda, und nicht viel später bin ich auch schon mitten im Weinland La Rioja. Ich fahre bis etwa 21:00 Uhr und mache in der Nähe eines kleinen Dorffriedhofs halt für die Nacht.

Ich spaziere einmal zwischen den Gräbern hindurch und bin verblüfft, dass auf dem kleinen Friedhof fünf Leute liegen, die mit über 100 gestorben sind. Je zwei Personen die 102 und 103 wurden, und eine Frau, die sogar das Alter von 107 Jahren erreichte.

Auffallend ist, dass nur ein Mann dabei ist – Und das entspricht genau der Statistik. Nur etwa jeder Fünfte der über 100-jährigen ist ein Mann. Was machen wir falsch?

Ganz allgemein stelle ich mir die Frage: Wie lässt sich die Tatsache deuten, dass hier offensichtlich verhältnismäßig viele Menschen ein dreistelliges Lebensalter erreichen?

Vielleicht ist die Quintessenz, dass Wein in Maßen nicht allzu schlecht für die Gesundheit sein kann… Darauf stoßen wir doch mal an! Bis morgen!

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