Heute ist eine kurze Etappe angesagt. Vom Friedhof der steinalten Leute fahre ich nach Vitoria, wo ich mich wieder mit Dorleta und Nestor treffe. Ich breche um 7:00 Uhr auf, da bereits die ersten Sonnenstrahlen die Temperatur merklich nach oben schnellen lassen.
Zwischen den Weinbergen hindurch, auf glatten Straßen, windet sich die Strecke einen 900 m hohen Berg hinauf. Zahlreiche Rennradfahrer überholen mich: hier scheint Frühsport angesagt zu sein! Auf der anderen Seite des Berges gibt es erst eine schnelle Abfahrt, darauf folgt eine Bundesstraße, die 30 km schnurstracks geradeaus nach Vitoria führt.
Es ist wirklich ein Déjà-vu-Erlebnis, wieder auf altbekannten Straßen zu fahren. Ich erinnere mich, wie ich damals gelitten habe, die Bundesstraße in die andere Richtung zu radeln. Während ich heute eine leichte Brise von vorne habe (genau das richtige bei hohen Temperaturen), hatte ich damals eine leichte Brise von hinten. Ich saß in meinem Schweiß. Hinzu kam, dass es von Vitoria in Richtung Rioja nur bergauf geht.
Heute ist es umgekehrt: ich freue mich fast 30 km lang, ohne zu treten, mit 50 km/h nach Vitoria zu rauschen. Manchmal lohnt es sich, zweimal dieselbe Strecke zu fahren. Denn meine neuen, positiven Erfahrungen überschreiben jetzt die alten! Ist das nicht toll! Die Lebensweisheit, die man daraus ziehen kann, ist: Es lohnt sich manchmal, unangenehme Erfahrungen zu wiederholen. Beim zweiten Mal sind dem Tiger womöglich die Zähne rausgefallen.
In Vitoria angekommen, setze ich mich erst mal in einen schattigen Park und telefoniere dreieinhalb (!) Stunden mit Pascal. Danach fahre ich ganz langsam durch die Innenstadt, und setze mich in eine Kneipe mit einem großen Flachbildschirm. Dort läuft die Tour de France, die Königsetappe nach Alpe d’Huez. Knapp 170 km, fast 4700 Höhenmeter.
Der Dominator der letzten beiden Jahre, Sloweniens Tadej Pogačar attackiert verbissen am Schlussanstieg. Seine Attacken verpuffen aber eine nach der anderen wirkungslos, auch wenn jedes Mal mein Herzschlag um zehn Schläge höher wird. Was ist das spannend. Und Pogačar muss angreifen: am Vortag war er am Berg eingebrochen und hat nun 3 Minuten Rückstand auf die Spitze.
Plötzlich bimmelt mein Handy. Dort leuchtet eine Nachricht.
„Wenn du willst, kannst du zur Wohnung kommen. Ich bin jetzt zu Hause. Liebe Grüße, Nestor“
Kurze Zeit später begrüße ich Nestor und Dorleta und wir genießen den Sonnenuntergang auf dem Balkon. Die Sonne verschwindet hinter einer Wolkenschicht, nur um wenige Minuten später wieder darunter wie ein pralles Eidotter hervorzugleiten.
Weil wir alle recht müde sind, entschließen wir, früh ins Bett zu gehen.
Nestor sagt: „Es ist die Hitze, die mich so müde macht.“
Dorleta sagt: „Es ist die Arbeit, die mich so müde macht.“
Ich sage: „Es ist das Fahrradfahren, das mich so müde macht.“
Damit ist geklärt: wir müssen ins Bett! Gute Nacht und bis Morgen!