Dorleta erzählt mir heute Morgen von Felsen an der Küste des Baskenlandes, wo man die Geschehnisse von Millionen Jahren an den Gesteinsschichten ablesen kann.
Plötzlich wird ein abstraktes Konzept wie Zeit sichtbar. Wie in einem Buch, werden immer wieder neue Seiten geschrieben. Der Text der Zeit sind nur keine Worte – sondern Sedimente.
Die ganze Gegend hier ist geologisch hoch fruchtbar. Schon vorgestern erzählte mir Hugo (der Rennradfahrer, der mich begleitete) von einem Professor aus Münster, der jedes Jahr mit seinen Studenten in die Sierra de la Demanda gefahren ist, um Ausgrabungen zu machen.
Wenn ich mir eine Superkraft wünschen könnte, dann wären es Augen, mit denen ich das Verborgene im Erdinneren erkennen kann. In Würzburg stellte ich mir oft vor, wie ich durch die Weinberge laufe mit dieser Superkraft und die Fossilien plötzlich von einer leuchtenden Aura umgeben sind, so dass ich sie finden kann.
Aber vielleicht ist diese Superkraft doch wieder nicht so schön, denn mit ihr würde auf kurze oder lange Zeit der Reiz des Suchens verschwinden. Die Suche wird ja nur spannend, weil das Ergebnis ungewiss ist. Wenn man aber immer findet, wonach man sucht, dann ist die Saat der Langweile schnell gesät…
Ich habe meine Sachen zusammengepackt, und sage: „Es ist erstaunlich, wie schnell man sein Leben in Taschen verpackt hat. Da gibt es wirklich nicht so viel.“
„Die materiellen Dinge machen ja auch nicht das Leben aus“, erwidert Dorleta. „Sie geben maximal Komfort. Wirklich bedeutsam sind nur Beziehungen. Ich habe lange gebraucht, das zu verstehen.“
Die gepackten Taschen stehen vor der Eingangstür. 20 Kilo und ein Fahrrad, so viel wiegen meine materiellen Komfortgeber. Aber ehrlich gesagt, ohne sie würde ich nackt durch die Gegend fahren und wäre wahrscheinlich im Schwarzwald erfroren. Ein bisschen Materialismus ist schon angebracht.
„Ach, die Zeit verfliegt so schnell“, meint Dorleta. „Wenn wir sie nur stoppen könnten.“
„Das finde ich keine gute Idee. Dann würden wir gar nichts mehr machen“, sage ich. „Die verrinnende Zeit ist doch der stärkste Antrieb überhaupt, unsere Ziele in Angriff zu nehmen. Ohne diesen Druck würden wir alles, was nicht sofort Glücksgefühle erzeugt, einfach auf immer hinauszögern…“
„Stimmt“, sagt Dorleta. „So habe ich nie darüber nachgedacht.“
Wenige Minuten später sitze ich wieder im Sattel. Ich fahre durch dichte Wälder und Bergdörfer, die auch im Allgäu liegen könnten. Die Bauweise ist erstaunlich ähnlich. Nach 4 Stunden und 70 km komme ich in Bilbao an, wo ich durch die charmante Altstadt spaziere und mich schließlich in ein Café am Guggenheim-Museum setze.
Dort werde ich von einem Fotografen aus Frankreich angesprochen, der ein Foto machen möchte. Klar, gerne! Er will es mir später über Instagram schicken.
Wenige Minuten danach fragt mich ein englisches Ehepaar: “Was sind das denn für Federn? Die sind ja riesig!“
Ich kläre auf: „Das sind Geierfedern.“
„Wow! Und die Geier leben noch?“
„Ja, alles Tierwohlkonform!“
Ich habe mein Markenzeichen – das ist sicher!
18:00
Vom Guggenheim Museum zu Tonys Wohnung sind es nur wenige 100 m. Tony begrüßt mich herzlich und wir schaffen es sogar, das vollbeladene Fahrrad in den Aufzug zu quetschen.
In Tonys Wohnung sind überall Bilder und Figuren von Athleten – vorzugsweise Sprinter. Tony deutet auf ein Bild, und sagt: „ich war belgischer Meister im 100 m Lauf.“
Ich dachte, Tony wäre Spanier. Aber Tony erzählt mir, dass er in Lüttich aufgewachsen sei und erst mit 25 nach Bilbao gezogen ist.
„Lüttich! Da war ich ja auch schon. Das ist ganz nah an Maastricht. An eine gruselige Nacht im Soldatenfriedhof von Lüttich werde ich mich immer erinnern.“
„Was war da?“, fragt Tony.
„Ach, da habe ich mit einem Freund eine Fahrradtour gemacht, und wir haben keinen anderen Platz gefunden, um unser Zelt aufzuschlagen. Die ganze Nacht haben da Leute mit Taschenlampen rumgemacht, wahrscheinlich war es ein beliebter Ort für Mutproben unter Jugendlichen.“
„Beim nächsten Mal musst du dir den Wochenmarkt am Sonntag anschauen, direkt an der Maas. Das ist garantiert entspannter als der Soldatenfriedhof“, gibt mir Tony als Tipp.
Während ich ein bisschen telefoniere, bereitet Tony das Abendessen vor. Es gibt Fisch und Röstkartoffeln, Tortilla, Reis mit Pilzen und ein Salat. Königlich!
Um 20:30 Uhr machen wir uns auf den Weg zu einem Konzert von Tonys Gesangslehrerin. Tony ist nämlich der Leadsänger in einer Pop Band. Auch sonst ist er musikbegeistert: Am Sonntag fliegt er nach Paris zu einem Coldplay Konzert, und in der Wohnung stehen hunderte Schallplatten. „David Bowie ist mein absoluter Lieblingssänger“, sagt Tony und deutet auf ein Poster an der Tür.
„Kann eigentlich jeder lernen zu singen?“, frage ich Tony. „Ich sehe mich nämlich fast als hoffnungslosen Fall“.
„Ach“, meint Tony, „das dachte ich früher auch von mir. Aber wenn du kein vollkommen kaputtes Ohr hast, kann eigentlich jeder lernen zu singen. Sogar ich habe es zu einem akzeptablen Sänger gebracht.“
Das gibt mir doch Hoffnung!
Das Konzert findet in einer Kneipe statt, und etwa 50 Leute schauen zu. Tonys Gesangslehrerin singt virtuos auf Italienisch, und die Begleitband ist auch voll dabei.
Bei den vielen Zuschauern und der allgemeinen Hitze, wird es in der Kneipe aber ziemlich warm. Mit Schweißperlen auf der Stirn, aber dennoch gut gelaunt, unterhalten wir uns nach dem Konzert noch mit einigen Gästen.
Anschließend machen wir uns auf den Heimweg, naschen zu Hause noch ein bisschen Obst, und fallen wie gefällte Bäume ins Bett. Gute Nacht!