Tag 115: Ein fluchender Fahrradmechaniker und Veränderungen durch Corona

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Ich schlafe bis 9:00 Uhr aus und esse dann mit Tony ein stärkendes Frühstück. Jon, Tonys Sohn, schläft noch fest. Ich werde ihn an dem Morgen nicht mehr sehen.

Nach dem Frühstück radle ich zusammen mit Tony in die Innenstadt. Wir fahren an einem Fahrradladen vorbei, wo ich nach einem Speichenwerkzeug frage. Der Mechaniker rät mir, eine neue Speiche einzusetzen. Er meint, das könne er in 20 Minuten erledigen.

„Das kannst du glauben“, sagt Tony. „Das hier ist der beste Fahrradladen in Bilbao. Und das will was heißen!“

Also gut. Ich warne den Mechaniker, dass an dem Fahrrad so einiges nicht ganz perfekt ist. Er lacht selbstsicher und meint: „Das kriege ich schon hin!“

Tony und ich gehen währenddessen noch Lebensmittel einkaufen und treffen dabei einen Mann, der in den letzten viereinhalb Jahren angeblich 94500 Kilometer geradelt ist. Ich schätze ihn auf etwa 60. Er trägt lange graue Haar, ein grünes Piratenkopftuch und eine Brille.

Der Mann sitzt im Schatten. Vor ihm steht ein Becher für Kleingeld und Pappschild mit einer Europakarte, auf der seine Route zu sehen ist. Hinter ihm ist sein Fahrrad mit den Taschen.

Viele der Passanten sind beeindruckt, denn der Pappbecher vor ihm ist gut gefüllt. Eine ältere Dame steckt sogar einen fünf Euro Schein hinein.

Er ist Deutscher und seit 30 Jahren mit dem Fahrrad unterwegs. Wir unterhalten uns kurz ein paar Minuten. „Corona hat mich hart getroffen“, erzählt der Mann. „Plötzlich saß ich auf dem Trockenen.“

„Vorher habe ich immer nach Bedarf in Hotels oder in der Gastronomie gearbeitet.

Wenn ich genug Geld zusammengespart hatte, habe ich eine Fahrradtour von 12 bis 15.000 km gemacht.“

Die Jobsuche – meistens in Spanien – erklärt der Mann so: „Ich habe eine Runde gedreht und meinen Lebenslauf an Betriebe verteilt, die als Arbeitgeber infrage kamen. Dann habe ich mich auf eine Bank gesetzt und einfach auf die Anrufe gewartet. Innerhalb von einer Stunde hatte ich immer mindestens fünf Angebote.“

Aber seit Corona sind diese Jobs offenbar verschwunden.

„Es ist jetzt viel schwieriger für mich.“

„Aber es will doch jetzt wieder jeder reisen“, sage ich. „Eigentlich müssten die Jobs zurückkommen.“

„Ja, sind sie auch“, sagt der Mann. „Aber es haben auch viele Spanier in anderen Bereichen ihre Jobs verloren, und die machen jetzt die Arbeit, die ich früher gemacht habe.“

Der Mann versucht sich im Optimismus. „Es wird schon wieder besser werden“, sagt er. Es hört sich aber mehr nach einem frommen Wunsch an als nach Überzeugung. Im Ton schwingt eine gewisse Niedergeschlagenheit mit.

„Auch die Gastfreundschaft hat durch Corona einen Dämpfer erhalten“, sagt der Mann.

„Als ich früher in Portugal unterwegs war, war es schon eine schlechte Woche, wenn ich nicht jede zweite Nacht eingeladen wurde. Da habe ich mehr bei Leuten geschlafen als in meinem Zelt! Aber seit Corona hat sich das vollkommen auf den Kopf gestellt, und kommt auch nur langsam wieder zurück.“

Die Pandemie hat Spuren im Verhalten hinterlassen. Das ist klar.

Wie es vor der Pandemie mit der Gastfreundschaft war, kann ich aber nicht beurteilen. Ebenso wenig, ob die Jobsuche tatsächlich so einfach war, und heute so schwer geworden ist.

Mir scheint allerdings, dass dieser Reisende die Welt durch eine etwas pessimistische Linse betrachtet. Ohne Zweifel war es während der Lockdowns der absolute Horror für Reisende – insbesondere solche, die wie dieser Mann ein Leben als Wanderarbeiter führen. Aber mein Eindruck ist, dass die Menschen nach wie vor sehr offen und einladend sind.

Vielleicht spielen bei diesem Mann also auch andere Faktoren eine Rolle. Mit zunehmendem Alter wird ein solcher Lebensstil, das Radfahren und die Jobsuche ja nicht gerade einfacher.

Wir verabschieden uns und laufen zurück zum Fahrradladen. Der Mechaniker ist noch nicht fertig und flucht: „Das ist eine Scheiße! Diese Kassette abzukriegen war die Hölle!“

Wusste ich doch, dass dieses Fahrrad Schweiß, Blut und Tränen verursachen würde in der Werkstatt.

Doch ich muss lobend erwähnen: der Mechaniker ist weit gekommen. Er ist schon dabei, die Speichen neu zu justieren. Schon bald dreht sich das Rad wieder gerade, und er baut alles wieder zusammen. Die Schaltung wird auch neu justiert, und die Bremsen gewechselt.

Nach einer Dreiviertelstunde laufe ich mit einem komplett anderen Fahrrad aus der Werkstatt. Und ich selbst habe keinen Cent bezahlt: Tony hat mir die Reparatur spendiert.

„Ich will doch nicht, dass du im Baskenland stirbst“, meint er halb im Ernst. „Dem Mechaniker zufolge war dein Fahrrad eine wahre Kamikazemaschine!“

Tja, Fahrradmechaniker, die etwas auf sich halten, haben eben andere Ansprüche – und Möglichkeiten – als ich.

Tony begleitet mich noch ein Stück durch Bilbao und dann verabschieden wir uns ganz herzlich.

Ich fahre zur Küste. Dort folge ich immer der Küstenstraße, die einige knackige Anstiege bereithält, die aber zum Glück nie länger als 3 km sind.

Gegen 15:00 Uhr komme ich an einem Dorf vorbei, wo jede freie Fläche mit Zelten zugekleistert ist. Die Autos stauen sich Kilometer die Straße hoch. Es findet ein großes Reggae Festival statt, und Tausende Leute aus ganz Spanien und darüber hinaus sind angereist.

Ich werde während des Tages mehrmals auf meine Federn angesprochen und komme so immer wieder in Gespräche.

Gegen 20:00 Uhr setze ich mich vor eine Kirche, mit der Absicht dort mein Abendessen zu essen. Wenige Minuten später kommt der Pfarrer vorbei, um ein Plakat aufzuhängen. Er fragt mich, wo ich übernachten möchte, und stellt sich als Jesus Marie vor.

Als ich frage, ob es möglich wäre, vor der Kirche zu übernachten, sagt der Pfarrer: „Ja klar, aber ich kann dir was Besseres bieten. Das Haus dort, neben der Kirche, ist unbewohnt. Das kannst du für die Nacht haben.“

„Wo kommst du her?“, fragt mich Jesus Marie.

„Aus Münster.“

„Ach, Münster! Ich bin Franziskaner. Ich war eine Woche im Konvent in Münster. Es ist das einzige Mal, dass ich in Deutschland war. Aber Münster hat mir gut gefallen.“

Was für ein Zufall!

Ob die Kirche denn alt sei, frage ich den Pfarrer. „Ja, sehr alt“, erzählt er mir. „Sie steht auf römischen Fundamenten.“

Er öffnet die Pforte und wir betreten die Kirche. Im Boden sind Glasplatten eingebracht, durch die man die alten römischen Fundamente betrachten kann.

Eine der Säulen, die das neue Dach der Kirche stützt, steht auf einem römischen Grabstein. Davon gibt es noch zwei weitere in der Kirche, auf denen sogar noch die Inskriptionen zu lesen sind. „Dieser Grabstein war für einen Mann“, sagt Jesus Marie. „Der Name endet in O. Wie Antonio, Marco, und so weiter.“

„Die römischen Fundamente kommen vom zweiten Jahrhundert nach Christus. Später haben die Goten hier gebaut und im Mittelalter war das Gebiet ein großer Friedhof. Die Knochen haben wir an ein Museum geschickt. Wir haben bei den Ausgrabungen ganze Berge zutage gefördert!“

„Wahnsinn, sehr beeindruckend“, sage ich.

Stolz erzählt der Pfarrer, wie der Gottesdienst aus der Kirche im Fernsehen übertragen wird. „Das haben wir nach dem Corona Lockdown so beibehalten.“

Der Pfarrer hat noch einige Aufgaben zu erledigen und wünscht mir eine erholsame Nacht. Er verabschiedet sich mit den Worten „War schön, dich kennenzulernen!“

Ich esse mein Abendessen in einem Zimmer, das mich an einen Alpenhof erinnert. Ich dusche kurz und kalt, und mache es mir schließlich bequem. Gute Nacht!

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