Tag 118: Grüne Landschaften, hohe Geschwindigkeiten und spontane Gespräche

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15:50

Ich sitze in einem lichten Buchenwald, auf einer bemoosten, weichen Fläche. Hinter mir liegt einer der härtesten Anstiege der ganzen Tour. 8 km ging es mit einer Durchschnittssteigung von 10 % hinauf, dann war es einige Kilometer flach und die letzten 3 km ging es wieder mit 10 % zur Spitze des Berges.

Als Belohnung gönne ich mir jetzt ein Baguette mit Schafskäse, den ich von einem Bauernhof gekauft habe. Der Käse hat einen schönen würzigen Geschmack, den ich noch besser genießen könnte, wenn ich nicht gerade eben versucht hätte zu diktieren und zur selben Zeit zu schlucken. Irgendwie ist dadurch Käse und Baguette in die Nase gekommen, und das kratzt und juckt jetzt unangenehm. Schnell einen Schluck Wasser trinken!

Die französische Seite der Pyrenäen ist viel lieblicher als die spanische. Alles ist grün, sogar der Waldboden. Überall stehen stattliche Buchen in parkähnlichen Wäldern. Von Zeit zu Zeit plätschern Bergbäche schimmernd durch den Wald. Die Gegend ist wirklich zauberhaft – mich würden Elfen und Feen hinter der nächsten Kurve nicht überraschen.

Die Wolken ziehen in tiefhängenden Fetzen vorbei, dazwischen ist über weite Abstände auch Sonnenschein. Die Geier, die über mir schweben, fliegen durch die Wolken und sind dann nur noch als gespenstische Silhouette zu erkennen.

Gerade zieht an meinem Picknickplatz auch eine Wolke vorbei und taucht alles in einen dichten Nebel. An meinen Haaren bleibt die Feuchtigkeit hängen und die Temperatur fällt merklich ab. Bei der Abfahrt werde ich eine Windjacke überstreifen. Ich kann es kaum glauben, dass es gestern noch 42° warm war.

17:00

Die Abfahrt war rasant. Durch die dicke Wolkenschicht war die Sicht teilweise auf weniger als 50 m beschränkt. Doch als ich aus den Wolken rausfuhr, nahm ich die Finger von der Bremse und er gab mich voll und ganz dem Geschwindigkeitsrausch hin. Toll!

20:30

Eben habe ich haben mich zwei Kinder bei meinem Abendessen gefunden. Ich bin in einem kleinen Dorf auf dem Marktplatz und esse dort ein Baguette mit Joghurt und Honig.

Die beiden Kinder sind sehr gesprächig, und stellen sich als Miles und Merle vor. Ihr Vater komme aus Irland, erzählen Sie mir, und jetzt wollen sie an einem Haus in der Nähe anklopfen, weil die Bewohner dort auch aus Irland sein sollen.

Alleine wollen sie es aber nicht tun, und deshalb fragen Sie mich, ob ich mit Ihnen anklopfe. Wir klopfen an, aber niemand macht auf: die Bewohner scheinen anderswo im Urlaub zu sein. Merle erzählt mir, dass sie hier ein Ferienhaus haben. Normalerweise wohnen sie in Bonn, aber in den Sommerferien und zu Ostern fahren sie immer in die Pyrenäen.

„Wenn du willst, kannst du bei uns schlafen“, schlägt Merle direkt vor.

„Dann müssen wir aber erst mal deine Eltern fragen“, bremse ich.

„Wir haben eine Scheune, oder auf dem Dachboden, auf der Couch, oder bei uns im Zimmer…“, fängt Merle schon an, alle in Betracht kommenden Schlafplätze aufzuzählen.

Merle ist acht Jahre alt, ihr ältere Bruder Miles elf. Sie sind ganz erstaunt, dass ich so eine große Tour mit dem Fahrrad mache.

„Lebst du so?“, fragen Sie mich.

„Nur für ein paar Monate“, sage ich. „Sonst bin ich Student.“

Miles und Merle reden so viel, dass sie sich gegenseitig immer wieder unterbrechen und parallel voller Elan etwas erzählen. Ich komme gar nicht hinterher!

Wie gerufen kommt die Mutter von Merle und Miles vorbei. Sie heißt Sara und ist Lehrerin für Englisch und Deutsch. „Das Essen ist da!“, sagt sie zu ihren Kindern.

Ich stelle mich vor und Merle fragt ihre Mutter gleich, ob ich übernachten kann.

Sarah ist der ganzen Sache aufgeschlossen gegenüber, meint aber: „Ich will noch einmal kurz bei den Männern abchecken, ob das in Ordnung ist. Wir sitzen in einem Restaurant in der Nähe. Du kannst ja gleich nachkommen und dich einfach dazusetzen bei uns im Restaurant.“

Dann fordert sie Miles und Merle auf: „Los, kommt mit!“

„Nein, ich will aber nicht“, weigert sich Merle. „Das ist gerade so interessant!“

Merle geht erst mit ihrer Mutter mit, als ich verspreche bald nachzukommen.

Im Restaurant lerne ich den Vater Liam und den Opa kennen, der auch mit von der Partie ist. Wir unterhalten uns über alles Mögliche. Die Themen reichen von Lehrern, die selbst nichts mehr lernen (Ich sage dazu: „Das führt zu mentaler Arthrose.“ Da muss Sarah lachen: „Das ist so richtig!“), bis hin zu der Frage, ob es wirklich so schlecht um die USA bestellt ist, wie wir es oft hören.

„Nein“, argumentiert der Opa vehement. „Ich habe in meinem Berufsleben viel mit Amerikanern zusammengearbeitet, und die Leute im Süden und Mittleren Westen waren schon immer anders. Die Werte, die an der Ost- und Westküste vorherrschen, sind so fest verankert in den USA, dass das Land nicht so schnell ins Wanken kommen kann.“

Sarah widerspricht ihrem Vater ebenso vehement: „Wie Trump die Justiz korrumpiert hat, bedeutet nichts Gutes für das Land! Das letzte Urteil ist eine Schande, das entrechtet ja die Frauen!“

Liam kommt zwar aus Irland, aber er spricht perfektes Deutsch. Er ist Ingenieur, erzählt er mir, und hat Sarah in Aachen kennengelernt. Die Beiden kennen also auch Maastricht.

Immer wieder muss Liam Miles und Merle beruhigen, denn sie wollen ständig mit mir reden, während ich im Gespräch mit den andern bin.

„Lasst uns erst mal ausreden! Dann seid ihr dran. Sonst seid ihr unhöflich!“, weist Liam die beiden zurecht.

Wenige Minuten später, ist die Botschaft wieder vergessen und einer der Beiden, oder beide gleichzeitig, zupfen an meinem Ärmel und buhlen wieder um meine Aufmerksamkeit. „So einen Radfahrer lernt man eben nicht alle Tage kennen, die sind ja richtig aufgedreht“, meint Liam.

Vor allem der Opa ist sehr neugierig, wie ich die Länder und Leute einschätze, die ich auf meiner Reise getroffen habe. „Verzeih mir, wenn ich so viele Fragen stelle“, sagt er gegen Ende des Abends. „Aber in meinem Alter geht es nicht mehr um Sex, sondern um gute Gespräche.“ Wir lachen alle. Das tun wir heute Abend sowieso zu genüge.

Der Abend ist ein schöner Zufall, den ich Miles und Merle zu verdanken habe! Der Höhenmeterreichste Tag der Tour, mit über 2800 m, klingt mit einer angenehmen kalten Dusche im Ferienhaus der Familie aus.

„Hoffentlich plappern dich nicht Miles und Merle die ganze Nacht voll“, scherzt Liam noch. Dann wünschen wir uns eine gute Nacht.

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