Tag 121: Einmal auf Col du Tourmalet und wieder runter

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9:00

Um 9:00 Uhr bin ich auf der Piste. Es geht stetig bergauf. Ich starte auf etwa 500 m über Meeresspiegel und möchte heute zum ersten Mal auf meiner Tour die magische 2000 m Grenze knacken. Der Col du Tourmalet steht an.

Das Wetter am Morgen sieht vor allem grau aus. Das wirkt nicht sonderlich vielversprechend!

Zunächst muss ich aber an den Beginn der Passstraße kommen. Über eine Stunde lang rauscht ein Wohnmobil nach dem anderen an mir vorbei. Bei den steileren Abschnitten röhren die Motoren verärgert und spucken beißenden schwarzen Qualm aus. Ich will nicht wissen, welche Giftstoffe ich da einatme. Ich glaube ich habe heute eine Erklärung gefunden, warum so viele Profiradfahrer unter Asthma leiden…

Endlich verlasse ich die Talstraße und biege ab auf den Pass. Die Franzosen scheinen schlechte Rechner zu sein, denn zu 80 % sind die Angaben auf den Schildern zu den Pässen mathematischer Unsinn.

So auch hier. Der Anstieg von 730 m auf 2115 m, verteilt auf eine Strecke von 17 km, ergibt laut dem Schild eine Durchschnittssteigung von 6 %. Bei 6 % würde ich auf 20 km 1200 Höhenmeter gut machen. Ich muss aber auf 17 km schon 1400 m erklimmen. Die Angabe ist also schon auf dem ersten Blick Schwachsinn. Tatsächlich liegt die Durchschnittssteigung eher bei 8 %.

Geduldig strampele ich den Pass hoch. Anfangs überholen mich die Rennradfahrer, gegen Ende überhole ich die Rennradfahrer. Offenbar macht mir die Höhenluft nach vier Monaten Reise nicht mehr besonders viel aus. Der Puls ist vielleicht etwas höher als normal.

Oft, wenn mich Rennradfahrer überholen, rufen sie „Allez, allez!“. Mindestens genauso oft höre ich aber „Venga, venga!“. Auf diesem berühmten französischen Pass scheinen nämlich mehr spanische Rennradfahrer unterwegs zu sein als Franzosen.

Immer wieder kommt es vor, dass mein Fahrrad für ein E-Bike gehalten wird. Das liegt an der kleinen schwarzen Kiste, die zwischen Hinterrad und Sattelstütze montiert ist.

Ein besonders lustiges Erlebnis passiert, als mich ein französischer Rennradfahrer überholt und laut „Allez, all…“ ruft. Das zweite „allez“ bleibt ihm dann im Hals stecken und wandelt sich in ein empörtes „Oh, das ist ja ein Elektrofahrrad“.

Bevor ich etwas erwidern kann, schießt der Rennradfahrer in Wiegetritt davon. Mit so einem E-Bike-Lappen wollte er bestimmt nicht assoziiert werden…

Ich weiß nicht, ob ich stolz auf die Tatsache sein soll, dass Leute denken ich habe ein E Bike. Dass Leute auf diesen Gedanken kommen heißt, dass ich offensichtlich nicht so langsam fahre. Andererseits ärgert es mich, wenn Leute mich für jemanden halten, der nicht in der Lage ist, mit einem normalen Rad den Pass zu bewältigen.

Ich bin oben angekommen. Wer einen ruhigen Gipfel sucht, ist allerdings woanders sicher besser aufgehoben.

Oben auf dem Tourmalet kommt mir ein anderer Tourenradler entgegen, mit wehender Piratenflagge am Fahrrad. Das Fahrrad sieht aus, als wäre es für eine Weltreise gerüstet.

Ich frage den Fahrer also: „Bist du auf einer Weltreise?“

Mein Spürsinn ist richtig. Der Abenteurer stellt sich als Daniel aus Barcelona vor. Seit 2014 fährt er mit dem Fahrrad um die Welt. Er ist einmal um ganz Südamerika gefahren, und hat auch Nordamerika weitgehend bereist.

Seit dem Ausbruch der Corona Pandemie reist Daniel in Europa. „Hast du einen Tipp für mich, wo ich unbedingt eine Reise unternehmen sollte?“, frage ich. „Ich fand die Höhenwege in den Anden am spektakulärsten. Auf denen kannst du ganz Südamerika durchqueren.“

Wir machen zusammen ein Foto und dann fährt Daniel dort runter, wo ich eben hoch gefahren bin.

Ich schieße den Tourmalet auf der anderen Seite mit über 75 km/h runter. Wahrscheinlich war ich noch schneller, denn mein Navi misst Durchschnittsgeschwindigkeiten.

Als ich in eine dichte, kalte Wolkenschicht eintauche, muss ich die Geschwindigkeit aber drosseln. Selbst mit Windjacke komme ich ordentlich durchgefroren im Tal an. Dazu fängt es noch an, leicht zu nieseln. In einer Bäckerei kaufe ich mir deshalb als kleine Aufmunterung eine Quiche und ein Stück Flan.

Gegen 19:00 Uhr bin ich schon weit aus den Hochpyrenäen raus. Ich fahre auf einspurigen Feldwegen durch kleine Dörfer.

In einem dieser Dörfer lädt mich eine ältere Frau auf einen Kaffee ein. „Dass du alleine eine solche Reise unternimmst, ist bestimmt nicht ganz leicht für deine Eltern“, sagt sie. „Ich weiß, wie das ist.“

„Mein Sohn ist auch weit weg“, erzählt mir die Frau. „Zum Glück gibt es die Technik und Videoanrufe, denn so kann ich ihn wenigstens mal sehen“, sagt sie.

Ihr Sohn arbeitet in China bei einer Fluggesellschaft. Ihre jüngste Enkelin, die wie ich 21 ist, ist bei der Feuerwehr.

„Gerade hat sie viel zu tun mit den Waldbränden“, erzählt die Frau. „Sobald die Brände hier unter Kontrolle sind, wird sie nach Korsika fliegen, um dort im Einsatz zu sein.“

Die Frau bietet mir Kekse an und gibt mir noch eine Tüte mit frischen Gartentomaten mit. Du kannst ja deinen Eltern heute berichten, dass du leckere Gartentomaten gegessen hast“, flüstert mir die alte Frau zu, als sie mir die Tüte in die Hand drückt.

„Hattest du jemals gesundheitlich Probleme“, fragt sie mich dann.

„Nur ein verstimmter Magen – vielleicht hat eine Kuh ins Wasser gemacht“, antworte ich.

„Kühe sind Ok, Schafe machen aber Probleme. Meide das Wasser dort, wo Schafe sind“, rät mir die Frau.

Wir unterhalten uns eine ganze Stunde, bis ich mich auf die Suche nach einem Schlafplatz mache. Vorher bedanke ich mich noch, doch die ältere Frau sagt: „Nicht zu Danken. Ich freue mich doch, einem Reisenden etwas Gutes zu tun und das Gespräch war mir ein Vergnügen. Leute, die so etwas wie du machen, trifft man selten. Vor allem hier.“

Bei der Suche nach einem Schlafplatz fragte ich zunächst bei einem Hof nach, wo die anwesenden Personen mich aber nur auf den Nachbarbauern hinweisen konnten. Sie selbst hatten nämlich gar kein großes Grundstück, sondern sanierten gerade einen alten Hof, um ihn für Hochzeiten zu vermieten. Was man alles mit alten Bauernhöfen machen kann!

Eine halbe Stunde später frage ich bei einem anderen Bauern, ob ich auf einer angrenzenden Wiese übernachten kann.

„Geht klar!“, sagt der Bauer, als ich frage. „Es ist aber auf der anderen Straßenseite besser, weil es am Hof einen freilaufenden Wachhund gibt.“ Das ist hier recht häufig so.

Mein Abendessen wird ein Baguette mit Dosenmakrele und dazu die leckeren Gartentomaten der Frau, die mich auf den Kaffee eingeladen hat.

Jetzt liege ich im Zelt. Irgendwo hört jemand laute Musik. Ich genieße das Kribbeln in den Beinen nach einem Tag getaner Arbeit. Gute Nacht!

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