Tag 131: Ein vermeintlicher Diebstahl und kaltes Wasser

  • 5 mins read
  • Published

Der Tag fängt an mit einem blassblauen Himmel. Im Zelt wird es sehr schnell sehr warm.

Als ich am morgen nach Osten schaue, sehe ich die Berge, die mich heute erwarten werden.

So sitze ich bereits um 8:00 Uhr auf dem Fahrrad. Die ersten 40 km verlaufen ohne großes Ereignis. Nur fällt mir auf, dass ich keinen großen Appetit habe. Das ist auf der Tour immer ein Vorzeichen entweder für eine Magenverstimmung, oder einfach, dass der Körper mal einen etwas entspannteren Tag braucht.

Nach 50 km knurrt doch der Magen und ich kaufe in einem Supermarkt Obst, Brot und Maronenmarmelade ein. Der Kastanien-Brotaufstrich ist einer meiner Favoriten geworden (natürlich rangiert Honig nach wie vor auf dem ersten Platz).

Im Supermarkt bekomme ich dann allerdings den Schreck des Tages.

An der Kasse sagt mir die Kassiererin, dass ich das Obst selbst abwiegen muss. Ich eile schnell zur Obstwaage und lasse dabei den Korb, in dem mein Handy und mein Portemonnaie liegen, kurz an der Kasse stehen. Als ich zurückkomme, stelle ich fest: der Korb ist weg.

Die Kassiererin hat nichts bemerkt und ist noch erschrockener als ich. Ich eile durch den Supermarkt; das Herz klopft mir im Hals. Gibt es hier auf dem Dorf Diebe?

Plötzlich, in einem der letzten Gänge, kommt mir ein Mann entgegen und fragt mich: „Suchst du ein Handy und ein Portemonnaie?“

„Ja“, sage ich erleichtert. „Haben Sie es gefunden?“

„In der Tat“, erwidert der Mann. „Ich hab‘ ohne zu schauen einen Korb gegriffen und stellte gerade fest, da liegt ja ein Portemonnaie und ein Handy drin! Das ist schon das vierte Mal, dass mir so etwas passiert. Einmal war es sogar eine Handtasche, mit 1000 € Bargeld drin!“

„Ja, gut dass sie kein Dieb sind.“ Der Mann lacht: „Ja, Ehrenwort. Ich gebe immer alles zurück. Und es ist mir bisher auch jedes Mal gelungen, den Besitzer ausfindig zu machen.“

Da ist ja nochmal alles gut gegangen. Ein bisschen Muffensausen ist im Nachhinein etwas, worüber man lachen kann. Die Moral der Geschichte ist aber gar nicht unwichtig: Lasse nie dein Geld und dein Handy aus dem Auge. Ohne ist man aufgeschmissen! Das ist die Naivität eines 21-jährigen, der noch nie in die saure Gurke beißen musste.

Ich fahre weitere 25 km und schwimme dann in einem eiskalten Fluss. Es ist der Ain. Ich bade kurz hinter einer Staumauer und ich vermute, dass das Wasser so kalt ist, weil es von ganz unten aus dem Fluss stammt. Dort hat das Wasser bestimmt nicht viel mehr als 5-10°C.

Länger als eine Minute bleibe ich nicht drin. Der Kontrast zur warmen Außenluft ist einfach zu groß. Eisbaden ist im Winter eindeutig einfacher… Vielleicht fehlt mir auch einfach die Übung?

Als ich neben dem Fluss Pause mache und mein Handy aufladen möchte, bemerke ich: „Oh Schreck, mein extra Akku hat sich entladen!“ Die Konsequenz ist: Ich muss im nächsten Dorf unbedingt fragen, ob mir jemand Strom geben kann, um das Handy zu laden. Währenddessen werde ich dann eine Pause machen. Die habe ich auch bitter nötig, denn irgendwie fühle ich mich schlapp.

Eine ältere Dame sitzt draußen vor ihrem Reihenhaus und häkelt. „Das wird ein Winterpulli für meinen Enkel“, erzählt sie. Das Handy aufzuladen: Kein Problem! „Das ist eine gute Sache, deine Familie freut sich bestimmt immer auf Neuigkeiten“, sagt sie.

Ich sage, dass ich etwas Erholung nötig habe. Die alte Dame empfiehlt mir einen Spielplatz, wo ich im Schatten ein Nickerchen machen kann. „Perfekt, dann bis später“, rufe ich. „Ich werde hier sein“, sagt die Dame. Frau Meillard ist ihr Name. „Beschäftigung ist das Wichtigste“, sagt sie noch, bevor ich gehe. „Ich werde weiter häkeln und dich erwarten.“

Tatsächlich sitzt Frau Meillard noch immer auf der Bank vor ihrem Haus, als ich 2 Stunden später zurückkehre. Beim Nickerchen habe ich offensichtlich mit offenem Mund geschlafen und eine Bremse hat mich in die Lippe gebissen. Jetzt sieht sie aus, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen.

Frau Meillard macht aber keinen Kommentar, vielleicht bemerkt sie die Lippe auch gar nicht. Wie auch immer, ich kann fast normal sprechen, nur das V ist ein bisschen verwaschen.

Frau Meillard deutet auf den Pulli und sagt: „Schade, dass die jungen Leute alles neu kaufen wollen. Da entsteht so viel Müll!“

„Ich erkenne schon den Pulli“, sage ich zu Frau Meillard. „Ja, ein bisschen weiter bin ich gekommen. Aber nicht viel. Mit dem Muster ist es schwierig, und ich muss ständig überkreuzen mit den Nadeln.“

„Ja, das hört sich nach Arbeit an.“

„Es ist meine Beschäftigung“, erwidert Frau Meillard.

Mit voll aufgeladen den Akkus verabschiede ich mich von Frau Meillard. Es geht noch einen kleinen Berg hinauf, und dann fahre ich 15 km bergab. In einem Tal, umgeben von schroffen Jura-Kalksteinfelsen, stelle ich mein Zelt auf.

Die Nacht werde ich auf einem alten Bahnhofsgelände verbringen, das heute als Spielplatz dient. Der Boden, bedeckt mit getrocknetem Thymian, ist wohlriechend und weich. Ich werde bestimmt gut schlafen, denn das habe ich auch nötig. Gute Nacht!

Der ehemalige Bahnhof eines kleinen Dorfes wird mein Schlafplatz werden.

Author

Leave a Reply