Tag 133: Zurück in der Schweiz

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Ich habe ganze 11 Stunden geschlafen. Das merke ich auch, denn ich fühle mich heute viel besser als gestern. Direkt auf den ersten Kilometern rege ich mich auf, dass mein Wasser so algig schmeckt. Dabei hatte ich doch gestern Abend erst frisches Quellwasser in die Fahrradflasche gefüllt. Ich denke mir weiter nichts, doch im Hinterkopf fängt das Hirn an zu kombinieren.

Nach 15 km sind meine Wasservorräte aufgebraucht. Das ständige auf und ab der einspurigen Straßen zehrt an den Vorräten. Da hilft es auch nicht, dass die Jurawälder wirklich bildhübsch sind. In den frühen Sonnenstrahlen schimmern die Nadeln der Tannenbäume wie filigrane Smaragde.

Die Straße ist in den Felsen eingeschlagen, und am Rand kann man die Schichten des Bodens gut erkennen. Die Tannenbäume wachsen auf einer dünnen Humusschicht, die durch ein weiches Moospolster bedeckt ist. Darunter befindet sich massiver Fels, und ich kann sehen, wie die Wurzeln der Nadelbäume in jeder verfügbaren Ritze versuchen Halt zu finden.

Die Faszination, die der Wald ausübt, ändert aber nichts an meinen leeren Wasserflaschen. Ich muss unbedingt jemanden finden, bei dem ich nach Wasser fragen kann.

Ich bin auf andere angewiesen und das zwingt mich, auf die Leute zu zugehen. Mit der Zeit wird es immer leichter die Leute anzusprechen und nach etwas zu fragen. Selbst, wenn man etwas unglücklich formuliert, können die meisten Leute darauf gar nicht so schnell reagieren, wie das Gespräch voranschreitet.

In den online Kommunikationsmedien können die Repliken viel giftiger sein, weil der angesprochene viel Zeit hat, sich eine Antwort zurecht zu legen. Dazu kommt, dass man räumlich getrennt ist, oft verschwindet die Person sogar hinter einem anonymen Nutzernamen. Manche Menschen bekommen dadurch das Gefühl unverletzlich zu sein.

Im normalen Alltag ist heute alles darauf ausgerichtet, möglichst ohne Hilfe anderer das zu bekommen, was man braucht. Statt zu telefonieren, wird ein online Formular ausgefüllt. Statt jemanden direkt anzuquatschen, wird eine E-Mail oder eine WhatsApp geschickt.

Es ist eine weitere Facette des vielfältigen Begriffes der Entmenschlichung.

Interessanterweise erkennt die Sprachsoftware von Apple gar nicht das Wort „Entmenschlichung“ und schreibt stattdessen „Ant-Man Schließung“. Offensichtlich weigert sich die Spracherkennung ein solches Urteil über sich selbst zu fällen. Aber gut, was erwarte ich auch anderes? Schuldige über sich selbst richten zu lassen war noch nie der Weg zur Gerechtigkeit.

Natürlich ist die ganze Entwicklung hin zur Raum- und Zeitunabhängigen Kommunikation vor allem eines: bequem. Ich muss nicht auf den anderen zugehen, ich kann meine Kommunikation ganz nach meinen individuellen Bedürfnissen gestalten. Ich mache mich nicht so leicht verletzlich, weil eine größere Distanz gegeben ist. Außerdem kann ich meine Angaben, Texte oder Sprachnachrichten auch doppelt und dreifach überarbeiten, bis jedes Wort sitzt.

Der Nachteil ist allerdings, dass es zunehmend schwieriger wird, sich einer riskanteren (auch direkteren, unmittelbareren, fehleranfälligeren) Kommunikation hinzugeben (Etwa eine fremde Person nach Wasser zu fragen).

Wenn die Kommunikation so distanziert wird, verliert sie leider viele ihrer spontanen Wendungen, und damit den ganzen Reiz einer spannenden Diskussion. Die Unberechenbarkeit wird ersetzt durch eine kalte, algorithmische Zielstrebigkeit.

Mir bleibt als Radreisender keine Wahl und mittlerweile freue ich mich, mich dem spontanen Gespräch hinzugeben. Es geht zwar nicht wie bei Socrates Marktplatzgesprächen über Philosophie, aber auch aus einer einfachen Frage ergeben sich manchmal nette Unterhaltungen.

Bei einem Restaurant werde ich fündig. Dort wird zwar gerade die Wasserleitung erneuert, aber der Wirt gib mir eine eiskalte Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Perfekt!

Die Hälfte der Flasche fülle ich in meine Fahrradflasche und die andere Hälfte genieße ich auf der Stelle. Nur wenige Kilometer später stelle ich fest, dass das frische, kalte Wasser in meiner Fahrradflasche bereits einen algigen Geschmack angenommen hat.

Kommt meine Schlappheit am Vortag vielleicht von einer Algenüberlastung? Ich entschließe mich meine Fahrradflasche in Rente zu schicken und stattdessen eine andere zu nehmen. So kann ich zumindest das Risiko einer Algenvergiftung minimieren.

Direkt hinter dem Restaurant bin ich in der Schweiz, wo ich auf dem Jura Hochplateau genüsslich vor mich hin pedaliere. Ich bin in meinen Gedanken verloren, schalte einen Gang hoch, und höre ein lautes „Peng!“. Ich weiß sofort, was Sache ist: Zum zweiten Mal auf der Tour ist mir mein vorderer Schaltzug gerissen.

Ich bin mir sicher, dass irgendetwas mit der Schaltung nicht in Ordnung ist. Das Kabel scheuert irgendwo, denn sonst würde es ja nicht reißen. Mein Ersatzkabel hatte ich damals in Spanien verwendet, unter der Annahme, dass es sich um ein einmaliges Ereignis handelt.

Jetzt habe ich spontan keinen Ersatz. In den Bergen ist es zum Glück nicht so schlimm, wenn ich vorne nur im kleinsten Gang fahren kann. Wenn ich wieder in Frankreich bin, bemühe ich mich um Ersatz. Die Lektion, die ich lerne, ist: Wenn etwas aus den Vorräten aufgebraucht wird, sollte es zeitnah ersetzt werden.

Nach 70 km mache ich am Lac du Joux eine Badepause. Was für ein Genuss, in das reine Wasser einzutauchen!

Nur wenige Kilometer weiter, schlage ich mein Zelt auf einem Feld auf. Kurz darauf verkrampfen sich meine Eingeweide urplötzlich und ich suche schleunigst ein stilles Örtchen auf. Nach einer Stunde bin ich wieder in der Lage, zum Zelt zurückzuschleichen. Immerhin habe ich diese Nacht nichts mehr zu befürchten. Erschöpft schlafe ich ein.

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