Tag 137 und 138: Entlang der Frontlinie des ersten Weltkriegs

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Tag 137

Es ist windig. In meiner Nähe klimpert ein Seil an einer Fahnenstange, wie Takelage am Mast eines Segelbootes. Die Blätter der Bäume rauschen wie der Ozean. Die Luft ist kalt und frisch – nur der Hauch von Meersalz fehlt.

Es ist halb sieben und ich werde gleich meine Sachen zusammenpacken. Ich weiß nämlich nicht, ob ich hier offiziell zelten darf, oder ob das Gebiet schon im Nationalpark liegt. Eine Strafe will ich nicht riskieren.

Der Tag wird höhenmeterreich. Es könnte der zweitgrößte Tag der ganzen Tour werden. Viermal gilt es Berge von etwa 1200 m zu erklimmen. Zwischen jedem Berg liegt ein Tal, wozu ich auf etwa 5-600 m runterfahren muss. 2500 Höhenmeter werden am Ende wahrscheinlich zu Buche stehen.

Bevor es hinauf geht, muss es erst hinab gehen. Ich rase den ersten Pass des Tages hinunter und habe gar keinen Gegenverkehr. So früh sind die Straßen noch leergefegt. So könnte es immer sein!

Ich fahre die meiste Zeit im Wald, wo die Temperatur angenehm ist. Im frühen Morgenlicht strahlt das Laub der Bäume in einem saftigen, lebendigen Grün.

Mit jeder Stunde wird es voller auf den Straßen. Bald teile ich die Straßen mit unzähligen anderen Urlaubern, Wohnmobilen, Motorradgangs und anderen Rennradfahren. Die südlichen Vogesen sind touristisch offenbar bestens erschlossen.

Um 16:00 Uhr, nach der Abfahrt vom dritten Berg, lege ich mich in einen Park, um etwas zu entspannen. Der Ort, Munster, heißt fast so wie Münster. Ein lustiger Zufall. Es ist die perfekte Stelle, um meinen Beinen vor dem letzten Anstieg noch eine Erholungspause zu gönnen.

Alle vorherigen Abfahrten waren erste Sahne. Doch die letzte war mit Schlaglöchern und schwer sichtbaren Erhebungen übersät. Mir tun die Rennradfahrer leid, die hier runter (oder hoch) fahren müssen. Auch für mich war es mehr Arm als Beintraining, um die ganzen Schläge abzufedern.

Bei einer Kneipe lasse ich meine zu Neige gehenden Wasservorräte auffüllen. Wieder gut versorgt nehme ich den letzten Anstieg in Angriff. Nach 90 Kilometern und 2300 Höhenmetern mache ich Schluss. Ich stelle mein Zelt auf einer sandigen Fläche neben dem Weg auf. Mitten im Wald werden mich höchstens hungrige Tiere belästigen.

Auf einer nahen Bank esse ich ein Brot mit Dosenmakrele. Meine müden Beine lechzen nach Nährstoffen. Wohlgenährt und ausgepowert plumpse ich ins Zelt. Ich schlafe augenblicklich ein.

Tag 138

Wie bereits die ganze letzte Woche ist das Wetter wieder einmal blendend. Sonnencreme nicht vergessen!

Langsam, aber sicher bewege ich mich immer weiter in Richtung Norden. Ich bin nicht auf dem direktesten Wege unterwegs, aber am Ende des Tages fahre ich sowieso nur einen 8000km langen Kreis, der Start- und Endpunkt ist ja derselbe. Da gibt es doch keinen Grund zur Eile, sonst hätte ich gar nicht erst losfahren dürfen! Dafür fahre ich durch wunderschöne Tannenwälder, neben melodisch plätschernden Bächen und vorbei an hochgelegenen Bergseen.

Auf dem Col de Linge fahre ich an einem Soldatenfriedhof vorbei. 2600 deutsche Soldaten sind hier begraben. Wenig weiter befindet sich das französische Pendant. An einer Tafel ist ein Schild, auf dem ein Zitat von Jean-Claude Juncker zu lesen ist.

„Wer an Europa zweifelt, sollte Soldatenfriedhöfe besuchen. Dort sieht man, wozu das Nicht-Europa, das Gegeneinander der Völker, das Nicht-Miteinander-Wollen, das Nicht-Miteinander-Können, führen muss.“

Die, die hier begraben liegen, waren junge Männer in meinem Alter. Walter, Josef, Alois – ihre Namen. Hinter jedem dieser Namen steht ein vorzeitig beendetes Leben, eine trauernde Familie.

Man kann sich nicht aussuchen, wann und wo man geboren wird. Ich bin in diesem Augenblick erleichtert, nicht 105 Jahre früher auf die Welt gekommen zu sein.

Dann wäre ich wahrscheinlich einer dieser Jungs im Schützengraben gewesen. Ich hätte gemeinsam mit den Kameraden in der feuchten Matsche gelegen; sehnsüchtig auf Neuigkeiten wartend, um das Leben bangend, wenn die Granaten wieder flogen.

Was für eine grausige Vorstellung. Solche Erfahrungen verändern mit Sicherheit den Blick auf das Leben – aber nur, wenn man das Glück hat, zu überleben.

Ich glaube, ich würde nur noch fassungslos staunen, über welche Dinge sich die Leute im Alltag ereifern und Sorgen machen. Vielleicht hätte ich das Gefühl, das normale Leben ist mit so vielen Belanglosigkeiten gefüllt, so blass und so sicher, dass ich mich dort nicht mehr zuhause fühlen würde. In einer Umgebung voller Unwägbarkeiten wird spritzig die Lebendigkeit. In der Sicherheit verfettet sie, wird träge und ängstlich.

Manch einer denkt, dass meine Generation in Sicherheit erstickt. Sicherheiten machen abhängig, wie die Stützräder an einem Fahrrad. Sicherheiten abzulegen, fällt schwer. Die Wahrheit ist aber: Ich bin froh, dass kein streitsüchtiger König entscheidet, wann ich meine Sicherheiten opfern muss.

Ich bin in der Lage, meine Feuertaufe selbst zu wählen. Sich davor nicht zu drücken, macht sich bezahlt.

16:00

Obwohl ich viel durch schattige Wälder fahre, muss ich zweimal Sonnencreme auftragen. Die Augustsonne ist noch ziemlich aggressiv.

Meinen Schlafplatz für die Nacht finde ich in der Nähe von Moussey. Ich stelle mein Zelt inmitten von Tannen vor einer Wanderhütte auf. In der Nähe sind einige Bienenstöcke. Die Bienen ärgern mich aber nicht.

Ich mache noch eine kleine Wanderung und laufe dabei an einem großen Ameisenhaufen vorbei. Wenn ich still bin, höre ich sogar die winzigen Insekten, die zu tausenden ein Geräusch wie fein rieselnder Sand machen.

In Meinem Zelt höre ich den Bach, der unten im Tal rauscht. Ich glaube, dass ich gut schlafen werde. Bis morgen!

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