Tag 139: Lange Gespräche mit einem Holländer aus Australien

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Ich bin erst wenige Kilometer gefahren, als ich vor mir einen anderen Tourenradler sehe. Er fährt in Schlangenlinien, eine Hand am Lenker, die andere am Auge. Mit dieser versucht er vergeblich, eine Fliege zu entfernen. „Mist Fliegen“, grummelt der Radfahrer, als ich an ihn ranfahre. „Aber immerhin gibt es hier Insekten. Wenn die Insekten verschwinden, ist es immer ein schlechtes Zeichen.“

Das sind die ersten Worte, die ich von Haico höre. Wir werden den ganzen Tag zusammenfahren und auch auf demselben Zeltplatz schlafen. Haico ist 62 und stammt aus den Niederlanden. Seitdem er 20 ist, lebt er aber im Ausland. Erst zehn Jahre in Japan, danach in Australien. Jedes Jahr ist er für 2-3 Monate in Europa.

„Geld spielt für mich keine Rolle mehr. Zeit habe ich auch“, sagt mir Haico. „Seit zwei Jahren bin ich im Ruhestand.“

Haico fragt mich, welche Gegend ich auf meiner Reise am schönsten fand. „Wahrscheinlich die Pyrenäen“, antworte ich.

Haico stimmt mir zu: „Für mich ist das auch die schönste Gegend – zusammen mit der Ardèche. Was besseres als Frankreich findet man nicht zum Fahrrad fahren. Wo sonst hat man so schöne, ruhige Straßen mitten im Wald?“ Haico deutet auf die einspurige Waldstraße, auf der wir gerade fahren. Überall summen die Insekten in der Luft. Auf dem Boden tanzen kleine Lichtflecken.

Um ein Uhr machen wir an einem Badesee eine Pause. Hier frage ich Haico, was er beruflich gemacht hat. „Ich war Unternehmer“, sagt er. „Schon seit der Schulzeit. Ich bin jemand, der heute wahrscheinlich mit ADHS diagnostiziert werden würde. Man würde mich medikamentös ruhigstellen. Ich könnte mich dann vielleicht auf eine Sache konzentrieren, aber seelisch wäre ich tot. Zum Glück war man während meiner Jugend noch besser in der Lage, Freigeister zu akzeptieren.

Ich hatte immer zehn Bälle gleichzeitig in der Luft. Mit 16 schmiss ich die Schule, denn ich verdiente mit meinen Unternehmen so viel Geld, dass ich mir dachte: „Die Schule brauche ich nicht!“ Ich habe damals einen Radiosender gegründet und sogar für kurze Zeit einen Fernsehsender gehabt.“

„Wie hast du es denn geschafft, einen Fernsehsender zu haben?“, frage ich erstaunt.  

„Das ging recht einfach“, erklärt Haico. „Ich musste nur in die Senderanstalt einbrechen und mein Material einspeisen. Weil es gut war, hat jeder gesehen, dass ich was draufhatte. Schon hatte ich meinen Fernsehsender.“

„Da gehört aber Mut dazu“, rufe ich beeindruckt.

Hugo lacht: „Daran hat es mir zum Glück nie gemangelt. Mein Motto war immer: „Just do it!“. Auch meine Eltern wussten, dass sie mich nicht bändigen können. Sie ließen mich mit 16 nach Amsterdam ziehen, wo mein Leben einige Jahre aus Sex, Drugs und Rock’n’Roll bestand.

„Und dann bist du in Japan gelandet…Wie kam das? Mir scheint das ein sehr großer Schritt“

„Eines Tages landete ein Brief auf meiner Türschwelle. Auf dem Briefkopf stand ein Wort, das mir gar nicht gefiel. Wehrpflicht! Da zog ich es vor, Flüchtling zu werden. Ich packte meinen einzigen Koffer und zog möglichst weit weg. Nach Japan.“

„Wow“, staune ich.

Haico meint: „Ich habe in meinem Leben immer auf mein Herz gehört und einen Scheiß drauf gegeben, was in der Gesellschaft akzeptiert und normal war. Woher will sie denn überhaupt wissen, was für mich am besten ist?“

„Und wie erging es dir in Japan?“, will ich wissen.

„Es war genau richtig dorthin zu gehen, denn die frühen Achtziger waren die Blütezeit Japans. Ich schrieb Berichte für Zeitungen und startete ein Übersetzungsunternehmen. Mit diesem wurde ich so erfolgreich, dass ich mit 30 finanziell ausgesorgt hatte.“

„Als ich das Unternehmen verkauft hatte, machte ich eine Radtour vom Iran nach Amsterdam. Seitdem mache ich jedes Jahr mindestens eine große Tour und etliche kleinere. Das Fahrrad lässt dich nicht mehr los, mein Wort!“

„Warum bist du, nachdem du aus Japan zurückgekehrt bist, nicht in Holland geblieben?“, frage ich.

„Ach, die Liebe…“, lacht Haico. „Ich hatte eine Australierin kennen gelernt, eine Köchin. So zog ich nach Australien und gründete dort ein Restaurant. In meinen Jahren in Japan hatte ich mich daran gewöhnt, gutes Essen und guten Wein mit meinen Kunden zu trinken. Das wollte ich in Australien zu einem Geschäft ausbauen – der Markt war reif dafür. Ich importierte edle Weine und das Geschäft boomte.“

„Ein Restaurant zu betreiben ist aber ein riesiger Aufwand. Dieses Geschäft verkaufte ich also irgendwann und machte mit dem Erlös ein Backpacker-Hotel auf. Ein Hotel, das die Leute so beherbergte, wie ich es mir auf meinen Reisen immer wünschte, doch nur selten bekam.“

„Zum dritten Mal hatte mich mein Herz richtig geführt – denn die Backpacker kamen schon bald in Scharen und die Bude war fast immer rappelvoll. Zum Schluss haben wir über 150 Gäste die Nacht beherbergt.“

„Vor zwei Jahren dachte ich mir aber: Ich bin 60. Zeit für etwas anderes. 60-jährige sollten keine Manager mehr sein. Wer zu lange weitermacht, verknöchert in seinen Routinen, wird unkreativ. Da gibt es etliche Experimente, die das zeigen. Neues zu tun, steigert die Kreativität!”

Ich machte einen Universitätsabschluss in Wirtschaft und Philosophie. Ich verkaufte mein Hotel. Und ich fing wieder an, mehr Fahrrad zu fahren. Seitdem teile ich meine Zeit zwischen Sydney, Canberra und Europa auf.

Mir liegen viele Fragen auf der Zunge, nachdem mir Haico seinen außergewöhnlichen Lebensweg erzählt hat. „Was hat dich eigentlich nochmal zur Universität geführt?“, frage ich.

„Mir hat immer gestunken, dass in meinem Umfeld der häufigste Abschluss ein Doktortitel zu sein scheint. Ich, der nicht einmal die Schule beendet hat, passte augenscheinlich gar nicht dazu.“

„Ich wusste ja, dass ich nicht dumm bin. Aber ob man will oder nicht, man nimmt aus der Schulzeit bestimmte Ideen von sich selbst mit. Glaubenssätze darüber, was man kann und was man nicht kann. Und mit 53 wollte ich es wissen: sind das Wahrheiten oder sind das Lügen?“

„Ich dachte zum Beispiel immer, dass ich kein Mathe kann. Meine Lehrer waren felsenfest davon überzeugt, ich sei ein hoffnungsloser Fall! An der Uni schnitt ich plötzlich als Jahrgangsbester in Mathematik ab mit 100 % in der Klausur. Lass dir also nie sagen, was du kannst und was du nicht kannst. Das kannst nur du dir selbst beweisen.“

„Ja, das ist richtig. Aber man sieht überall, wie schwer es uns fällt, uns von alten Glaubenssätzen befreien.“, gebe ich zu bedenken. Der Philosoph Rousseau sagte dazu: „Der Mensch wird frei geboren und liegt doch überall in Ketten.“

„Wir bleiben leider wirklich viel zu oft in alten Verhaltensmustern stecken, in alten Glaubenssätzen verhaftet – und das, selbst wenn sie uns zurückhalten. Ich meine, schau dir einfach an, wie die Coronakrise das Verhalten der Menschen verändert hat. Gar nicht!“

„Ich hatte gehofft, dass Leute endlich zur Besinnung kommen und merken: Ach, ich bin genauso glücklich, wenn ich in meinem eigenen Land Urlaub mache. Dass mehr Leute hinterfragen, ob ihr irrsinniger Konsum überhaupt ihre Zufriedenheit erhöht.“

„Aber diese ganzen Hoffnungen haben sich für mich in Luft aufgelöst. Die Leute scheinen nach wie vor zu denken, dass ein größerer Urlaub oder ein dickeres Auto wirklich glücklicher macht. Stattdessen dürfen Sie Koffer suchen und im Stau stehen!“

Wir essen unser Mittagessen. Am Badesee sind noch einige andere Familien, aber es ist kaum jemand im Wasser. „Vielleicht ist es veralgt“, meint Haico. „Mit der Hitze nicht unwahrscheinlich.“

„Wie ist es eigentlich in Australien mit dem Umweltbewusstsein?“, frage ich Haico. „Ihr habt ja auch große Probleme mit der Hitze und Dürre. Aber ich habe immer noch das Bild vor Augen vom ehemaligen Premierminister Scott Morrison im Parlament mit seinem Kohleklumpen.“

„Ja, die letzten zwölf Jahre war in Australien auf dem Gebiet des Umweltschutzes kompletter Stillstand.“ Haico erklärt, warum. „Das politische System in Australien basiert auf zwei Parteien. Die Konservativen, die regiert haben, wurden von einer radikalen Minderheit in der Partei kontrolliert. Ohne dessen Stimmen gab es nicht die nötige Mehrheit, Gesetzesvorhaben durchzubringen. So hatten sehr wenige Extreme eine sehr große Macht in der Partei. Das waren die Klimawandel-Leugner und Kohleindustrie-Lobbyisten.“

„Das ist eine seltsame Sache in der Demokratie. Kleine Gruppen, die das Zünglein an der Waage sind, können eine ganze politische Agenda kapern. Sie setzen ihre Stimmen als Erpressungsmittel ein.

„Aber mach dir keine Illusionen: die überwältigende Mehrheit der Australier will, dass gehandelt wird beim Klimawandel. Insbesondere diejenige Bevölkerung, die in den Stadtgebieten wohnt.“

„Vor kurzem wurde endlich die konservative Regierung abgewählt. Das lag daran, dass viele ihrer traditionellen Wähler in den Städten parteilose Kandidaten gewählt haben. So genannte Independents. In den Städten ist der Widerstand gegen die verkorkste Politik so groß geworden, dass jetzt eine links-soziale Partei regiert, mithilfe von Stimmen der Independents. Ich hoffe, dass damit das Zweiparteiensystem in Australien endgültig tot ist.“

Haico trägt sich Sonnencreme auf.

Ich auch. „Ich habe gehört, dass es in Australien öffentliche Sonnencreme Verteiler gibt?“, frage ich. „Stimmt das?“

Haico antwortet; „Also ich habe so etwas jedenfalls noch nie gesehen. Aber es ist mir zur Gewohnheit geworden, jeden Morgen Sonnencreme aufzutragen. So wie die Zähne zu putzen. Ansonsten hat man mit 40 Haut wie ein Krokodil und mit 50 Hautkrebs.“

An einer öffentlichen Toilette füllen wir unsere Wasserflaschen auf. Dann fahren wir weiter.

17:00

Nach knapp 90 km machen wir in Wingen-sur-Moder halt.

Für 3,50 € können wir hier bei einem „Camping Municipal“ übernachten – Dusche und saubere Toilette inklusive . Für den Abend lädt mich Haico ins Restaurant ein. Wir trinken gerade ein helles Bier, als Heiko noch mal nachfragt bei der Kellnerin, wann der örtliche Supermarkt schließt. „Oh!“, sagt die Kellnerin. „Sie müssen sich beeilen! Der Supermarkt schließt in 10 Minuten!“

Wir müssen für morgen noch einige Einkäufe erledigen. Deshalb springen wir auf und rennen schnell zum Supermarkt. Die anderen Gäste haben sich bestimmt ihren Teil dazu gedacht.

Nach einer Viertelstunde sitzen wir aber wieder am Tisch und bestellen die Hauptspeise. Das Bier ist noch kalt. Ich nehme ein Cordon bleu. Dazu bestellt Haico eine gute Flasche Rotwein aus dem Rhonetal. Wir lassen es uns gut gehen und feiern den Tag

„Was willst du später machen?“, fragt mich Haico. „Ich will Lehrer werden“, sage ich.

„Das ist eine Berufung“, sagt Haico. „In den letzten Jahrzehnten ist der Ruf von Lehrern leider immer schlechter geworden, parallel dazu auch die Bezahlung. Früher waren Lehrer sehr angesehen. Aber für wen das Lehren eine Leidenschaft ist, der sollte Lehrer werden. Wenn ich mein Leben noch mal leben könnte, vielleicht würde ich auch Lehrer werden.“

„Mein älterer Bruder ist Medizin Professor in Maastricht. Jedenfalls war er das bis vor Kurzem. Dann entschied er sich, seinen Traum zu verwirklichen und ist mit 65 Mathelehrer an einem Gymnasium geworden. Die Schüler lieben ihn: bei ihm hat Mathe plötzlich eine praktische Relevanz. Mein Bruder möchte unterrichten, bis er im Grab liegt. Für ihn ist es wirklich eine Berufung.“

„Er hat sich immer nebenher mit Mathematik beschäftigt. Sein ganzes Berufsleben. Mit vielen seiner Kollegen an der Medizinfakultät konnte er sich nicht identifizieren. Für ihn waren da zu viele Arschkriecher und Karrierestreber. Heute sagt er mir, dass er die ganze Universitätskarriere sein lassen und direkt Lehrer werden würde.“

Vielleicht kann man aber erst zu einer solchen Erkenntnis kommen, wenn man einen Vergleichsmaßstab kennengelernt hat.

Haico glaubt, dass es für meine Generation schwieriger geworden ist, den eigenen Weg zu gehen. „Mir scheint, dass Abweichungen vom Ideallebenslauf aus Schule, Studium, Praktika und Beruf gesellschaftlich oft sehr missbilligt werden. Ihr lebt gewisser Weise in einem goldenen Korsett. Ich hatte es leichter“, findet Haico.

„Ich kann aber einen Rat geben“, fügt Haico hinzu. „Als jemand, der über Jahrzehnte Menschen eingestellt hat, rate ich dir: „Dreh den Spieß um. Warte nicht, bis jemand eine Stellenausschreibung macht. Folge deinem Herz. Geh dorthin, wo du gerne arbeiten würdest, stell dich vor und sage, was du gerne machen würdest. Mich als Unternehmer interessiert eine Person, die solchen Mut beweist, viel mehr als die 100 Bewerbungen, die bei mir auf dem Schreibtisch landen.“

Diesen Ratschlag werde ich mir merken. Ich glaube er ist goldrichtig. In der Berufswelt von heute hat jemand, der die Grenzen der üblichen Muster sprengt Seltenheitswert.

Natürlich muss auf der anderen Seite eine Person wie Haico sitzen, eine Person, die Verständnis für einen solchen Schritt hat und auf Konventionen auch mal pfeift. Aber ich vermute, dass diese Mentalität bei Unternehmern überdurchschnittlich häufig vorkommt.

Klar löst man sich so von der Sicherheit eines vorgeschriebenen (Bewerbungs-)Prozesses*. Es wird Zurückweisungen geben. Aber es gibt auch eine Belohnung für das emotionale Risiko, dem man sich Preis gibt. Statt Ohnmacht besitzt man plötzlich Eigenmächtigkeit. Selbstwirksamkeit.

Man ist sein eigener Herr. Darauf will Haico mit seinem Credo „Folge deinem Herzen” hinaus. „Raus aus dem Schildkrötenpanzer! Ergreife selbst die Initiative!“

Das war ein inspirierender und schöner Abend mit Haico. Ich habe viel mitgenommen und bedanke mich für die großzügige Einladung.

„Kein Ding“, antwortet Haico. „Freundlichkeit und Großzügigkeit (Kindness and generosity) sind die beiden wichtigsten Eigenschaften des Menschen. Es war ein sehr schöner Abend mit dir! Es hat mich riesig gefreut, dich kennenzulernen.”

Wir sind die letzten Gäste, die gehen. Als wir wieder am Zeltplatz eintreffen, schlägt die Glocke im Kirchturm halb 12. Zeit schlafen zu gehen!

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*So wie man sich heute meist um Stellen bewirbt, halte ich das Wort „Bewerben“ für vollkommen deplatziert. Im Begriff des Bewerbens schwingt nichts Passives mit, wie es aber die typische Prozedur ist. Wenn man um einen Partner wirbt, schickt man doch auch keinen Lebenslauf über ein anonymes Onlineformular…

(Ok, schlechtes Beispiel. Dating-Apps sind ja sehr beliebt. Auch hier ist man offensichtlich zu sensibel und ängstlich vor Zurückweisung, um direkt zu agieren.)

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