Tag 15: Mit allen Wassern gewaschen

  • 5 mins read
  • Published

Ein Feld 20km hinter Olten -> Neuchâtel

9 Uhr morgens.

Seit 16 Stunden regnet es ununterbrochen. Und es ist kein Ende in Sicht. Heute wird ein weiterer nasser Tag, das steht fest. Aber ich muss los, sonst komme ich ja gar nicht weiter. So spannend sind diese Wiese und meine Gäste die Schnecken auch wieder nicht. Also: Zelt abbauen und die Zähne zusammenbeißen.

When the going gets tough, the tough get going.”

Das sagte mein Englischlehrer in der Oberstufe immer – ein ehemaliger Offizier. Jetzt ist so ein Moment. Dann mal los!

21:00

Ich liege im Zelt, das ich auf einer Badewiese direkt am See bei Neuchâtel aufgebaut habe. Das Rauschen der Wellen wird mich gleich in den Schlaf begleiten.

Ich bin 90 Kilometer gefahren, und war 8 Stunden unterwegs. Die ersten 6 Stunden regnete es ununterbrochen, seitdem gibt es immer wieder Pausen zwischen den Schauern. Der Regen allein wäre noch leicht zu verkraften, doch der pfeifende Gegenwind zermürbt. Immerhin ist es mit 12 Grad recht mild.

Streckenweise war ich heute schon mies gelaunt und habe im Wind über den Wind geschimpft. Nach etlichen Stunden entwickelt man allerdings eine Gelassenheit gegenüber Wind und Wetter. Man kann es ja nicht beeinflussen, sich aufzuregen ist sinnlos. Vor allem: Es kommen auch wieder sonnige, warme, windstille Tage. Das Wetter ist ebenso volatil wie die eigene Stimmung auf einer Radtour.

Interessanterweise lässt sich einer solchen Erfahrung beim Radfahren viel abgewinnen für andere Situationen. Wie oft regen wir uns über Dinge auf, die wir gar nicht verändern können. Wie oft ändern wir Entscheidungen aufgrund von kurzfristigen Stimmungsschwankungen?

Insbesondere in Fragen der Gesundheit (v.a. Ernährung), Geldanlage, und Konsum sind wir häufig durch kurzfristige emotionale Schwankungen stark in unserer Fähigkeit eingeschränkt, langfristig gute Entscheidung zu treffen.

Wir gehen in den Supermarkt, wenn wir ausgehungert sind und kaufen viel mehr als wir brauchen. Übrigens: Nicht in den Supermärkten werden die meisten Lebensmittel weggeschmissen, sondern in den privaten Haushalten.

Wir verkaufen Aktien, wenn schlechte Nachrichten eintreffen, und kaufen sie anschließend teurer zurück, wenn die Anleger bemerken, dass alles nur halb so wild ist.

Warum machen wir das? Das wäre, als würde ich meine Radtour nach Portugal beginnen, weil es gerade sonnig ist, und sie morgen beenden, weil es regnet.

Durchhaltevermögen ist das Stichwort.

Ich habe heute den Regen verflucht, ich habe auf den Regen geschimpft und ich habe schon die ganze Tour pessimistisch gesehen. Ich habe meine Stimmung in einem Moment großer Unzufriedenheit auf das gesamte Unterfangen, nach Portugal zu radeln, übertragen.

Das ist menschlich, denn natürlich wird die Gegenwart emotional höher gewichtet als alles andere. Sie ist präsent in unserem Kopf, und alles andere in Vergangenheit und Zukunft verblasst im Vergleich zu dem gerade Erlebten. Deshalb ist es auch vollkommen klar, dass unsere Entscheidungen von unseren zum Zeitpunkt der Entscheidung vorherrschenden Gefühlen am stärksten determiniert sind.

Eine meteorologische Metapher für den Tag in Bildformat.

Wenn man auf diese Tatsache sensibilisiert ist, kann man besser einschätzen, ob man gerade eine extreme emotionale Spitze hat und lieber eine Entscheidung vertagen sollte oder, ob es ein eher ausgeglichener Zustand ist, in dem man sich befindet.

Jetzt stellt sich die Frage wie man trainieren kann, seinen emotionalen Zustand gut einzuschätzen. Ich bin davon überzeugt, dass man sich in außergewöhnliche Situationen bringen muss, wo das gesamte emotionale Spektrum abgerufen wird, von schwarzem Pessimismus bis hin zu euphorischem Optimismus.

Eine lange Radtour, wo der Abstand zwischen Glück und Pech, Euphorie und Niedergeschlagenheit besonders gering ist, ist da eine ziemlich gute Methode, sein Verhalten zu analysieren und besser zu verstehen.

Für mich ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, wie schnell man von einem Zustand großer Niedergeschlagenheit in einen optimistischen Zustand umschwenken kann. Wie schnell sich der Blick auf die Welt und auf die Zukunft verändern kann. Und vor allem, dass man aktiv seinen emotionalen Zustand beeinflussen kann, etwa in dem man ein Selbstgespräch führt, wo man sich genau daran erinnert. Es ist ein sehr starker Motivator, wenn man sich überzeugend einreden kann, dass ein negativer Zustand endlich ist. Darauf beruhen Vorstellungen, wie das Paradies, für das sich Fanatiker sogar bereit sind, in die Luft zu jagen.

Wer sich diese Erkenntnis zu nutze macht, dem wird es leichter fallen wichtige Entscheidungen in einem emotionalen Zustand zu treffen. Dadurch werden Ergebnisse begünstigt, die langfristig wünschenswert sind.

Nicht ohne Grund erzählen Leistungssportler wie wichtig es ist, seine Dämonen im Kopf zu kennen und Strategien gegen sie zu entwickeln. Einen inneren Dialog zu führen, der ein möglichst vorteilhaftes emotionales Klima begünstigt.

Die Erkenntnisse, die man aus dieser für jeden individuellen Entdeckungsreise gewinnt, kann man ohne Frage auch im Alltag einsetzen. Auch wenn es nur die Einsicht ist, eine impulsive Entscheidung hinauszögern ist schon viel gewonnen.

„Delay Intuition“, sagt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman häufig auf seinen Vorträgen. Er sollte es wissen, denn er forscht seit über 60 Jahren über den menschlichen Entscheidungsprozess und welche typischen Fehler einem dabei unterlaufen.

Hätte ich heute auf meiner Radtour in meiner dunkelsten Sekunde meiner Stimmung nachgeben, dann wäre ich in den nächsten Zug gestiegen und nach Hause gefahren.

Aber weil ich weiß, dass dieser Zustand auch vorüber geht, habe ich die Entscheidung zum weiteren Verlauf der Radtour verzögert. Nun bin ich der Ansicht, dass ich auch noch weitere Regentage mit Gegenwind gut durchhalten kann, und darauf dann auch stolz sein kann.

Man lernt Geduld und Gelassenheit auf einer solchen Radtour, und das stärkt das Durchhaltevermögen.

Author

Leave a Reply