Le Sappey -> Saint Jorioz
8:00: Ich merke, dass ich nicht der einzige Bewohner der Scheune bin. Die Schwalben und Hühner wecken mich. Ich habe eine gute Nacht gehabt!
8:15:
Ich klopfe an der Tür, an der mich die Landwirtin gestern verabschiedet hat. Ein alter Mann, dem die meisten Zähne fehlen, macht auf. Er schaut mich verwirrt an. Ich stammle etwas auf Französisch vor mich hin und frage, ob seine Frau mir gestern den Schlafplatz in der Scheune angeboten habe.
Ich weiß nicht, ob er mich versteht, denn schon erscheint die freundliche Landwirtin in der Tür und erklärt ihrem Mann wer ich bin. Sie sagt, sie habe es ihm schon erzählt, aber er habe es wohl wieder vergessen. Ihr Mann ist sehr still – er überlässt seiner Frau das Gespräch. Wir frühstücken gemütlich Weißbrot mit selbstgemachter Marmelade. Ihr Mann isst nichts, er raucht nur eine selbstgedrehte Zigarette.
Die beiden wohnen in einem rustikal eingerichteten Bauernhaus. Die Küche ist noch im Stile der 70er Jahre. Wir sitzen an einem langen Holztisch, und in der hinteren rechten Ecke von dem Zimmer brennt ein Holzofen. Es ist warm und gemütlich und riecht nach Kamin.
An den Wänden hängen Bilder von ihren Kindern und Enkeln. Stolz erzählt mir die Bäuerin, dass einer ihrer Söhne vor 2 Tagen nach Dublin geflogen ist. Er habe dort schon Arbeit gefunden, erzählt sie mir, nach nur zwei Tagen. Ihr Sohn ist Friseur, und die werden ja schließlich überall gebraucht. Er liebt das Reisen und hat schon in vielen unterschiedlichen Ländern gelebt: Italien, Thailand und jetzt auch Irland.
Nur teuer ist das Leben dort, in Dublin. Sie schüttelt den Kopf.
Vielleicht hängt es zusammen mit den großen internationalen Konzernen, die sich dort niedergelassen haben, sage ich. Irland ist ja bekannt als Steueroase. Könnte sein, meint die Bäuerin, aber sicher wissen tue sie es nicht. Das Wohnen sei ja überall teurer geworden, auch hier in ihrer Gegend.
Dass ihr Sohn schon nach 2 Tagen Arbeit gefunden habe, sei sehr schnell, bemerke ich. Ja sagt mir die Landwirtin, er habe sich aber auch angestrengt, was zu finden.
Nicht so wie viele Leute hier in ihrer Gegend. Sie berichtet von einem Dorf, wo von 45 arbeitsfähigen Menschen 22 arbeitslos gemeldet sind. Die Kommune hat versucht gegenzusteuern, und Stellen für die Arbeitslosen geschaffen, etwa im Bereich der Dorfverschönerung.
„Und nun rate mal“, fragt sie mich, „wie viele von den 22 Arbeitslosen sich dafür begeistern ließen“. „Zehn“, schätze ich. Sie schüttelt den Kopf und meint nur trocken: „Wenn das nur so wäre. Einer. Es hat sich genau einer von den 22 Arbeitslosen gemeldet.“
„Und weißt du warum das so ist?“, fragt sie. Weil die Arbeitslosenhilfe in Frankreich so gut sei, dass man davon ein bequemes Leben fristen kann. Warum sollte man sich dann anstrengen und Blumenbeete umsetzen, Müll aufsammeln oder Bäume pflanzen?
Man sagt immer, dass die Arbeit essenziell ist für das Selbstwertgefühl eines Menschen. Ein berühmter Aphorismus von Immanuel Kant besagt: „Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss“. Offensichtlich trifft das aber nicht auf alle zu.
Sie erinnere sich noch an härtere Zeiten, erzählt mir die Landwirtin. Sie sei im Jahr 1939 geboren. Sie erinnert sich noch an die Nachkriegszeit. Ob meine Großeltern in Frankreich gekämpft hätten, fragt sie mich dann. Ich antworte, dass mein Urgroßvater auch in Frankreich kämpfte. Aber ich habe ihn nie kennengelernt.
Krieg ist eine schreckliche Sache, erzählt die Landwirtin. Was in der Ukraine passiere, treffe sie bis ins Mark. Es sind in den letzten Tagen viele Ukrainer in Frankreich eingetroffen, erzählt sie mir. Sowas dürfe in Europa nie wieder passieren.
Sie erzählt mir, dass auch ihre Familie einen deutschen Kriegsgefangenen bei sich aufgenommen hatte. Er blieb wohl bis 1945 oder 46, doch so ganz genau konnte sie sich nicht mehr erinnern. Aber sie wusste, dass er noch über viele Jahre mit ihrem Vater geschrieben hatte, lange nachdem er zurück nach Deutschland gekehrt war. „Das war ein wahrer Gentleman“, sagt sie, „so freundlich“. „Adorable“ ist das Wort, was sie immer wieder verwendet.
Leider scheine sich die Geschichte zu wiederholen, auch im eigenen Land gebe es Kräfte, die wohl vor Krieg nicht zurückschrecken würden. In Frankreich sind die Rechtsradikalen, mit ihrem fremdenfeindlichen Weltbild die zweitstärkste Kraft im Präsidentschaftsrennen. Es ist ein „tête à tête“ Rennen, sagt sie. „Hoffentlich“, meint sie nachdenklich, „gewinnen die Radikalen nicht die Präsidentschaftswahl am 24 April“. „Schrecklich, einfach nur schrecklich“, sagt sie über Marine Le Pen, und verzieht dabei das Gesicht.
„Weißt du, ich bin 82. Viel kann ich in den wenigen mir verbliebenen Jahren nicht mehr bewirken“, erzählt die Bäuerin. „Aber ich wünsche meinen Kindern und Enkeln und deiner Generation eine gute und friedliche Zukunft.“
„Du machst es genau richtig mit deiner Europareise“, gibt sie mir noch auf den Weg. Dann bereite ich alles für die Weiterfahrt nach Annecy vor.
Wir machen noch ein Abschiedsfoto. Gut genährt und von der Klarheit und Menschlichkeit der alten Frau beeindruckt, mache ich mich auf den Weg nach Annecy.
Tatsächlich entstehen genau diese Zeilen am Ufer des kristallklaren Lac d’Annecy, mit Blick auf eine massive Felswand. Eine knappe Stunde habe ich noch zu fahren bis Saint Joriot, wo ich bei der Tochter alter Pfadfinderfreunden meines Opas übernachten werde.
14:00
Die 50 Kilometer zwischen Sappey, wo ich in der Scheune übernachtete, und Saint Jorioz, wo ich als nächstes übernachten werde, sind schnell geschafft. In Saint Joriot begrüßen mich Jean-Luc, seine Frau Chantal und ihre Tochter Delphine herzlich mit einem stärkenden Mittagessen und einer ebenso großen Portion Freundlichkeit.
Diese Übernachtung ist durch meine Großeltern zustande gekommen, denn Jean-Luc und meinen Opa Arnold verbindet eine über 60 jährige Freundschaft, die zurückreicht in ihre Pfadfinderjugend. Gemeinsam haben sie Zeltlager und Wanderungen in Deutschland und in Frankreich unternommen. Reisen haben einen Weg, sich ins Gedächtnis einzubrennen. Auf Reisen entstehen Freundschaften für das Leben. Jean-Luc und Chantal erzählen mir voller Elan und Enthusiasmus, was sie alles zusammen mit meinen Großeltern Arnold und Irmgard erlebt haben.
Später am Nachmittag geht Jean-Luc mit mir eine Runde am Ufer das Lac d’Annecy spazieren und erzählt mir dabei über seine Zeit als junger Ingenieur in Afrika. Er beschreibt, wie er und einige Kollegen damals einen Staudamm gebaut haben, um ein Dorf zuverlässig mit Wasser und Elektrizität zu versorgen.
Bevor es den Staudamm gab, sind die Frauen des Dorfes immer über 10 km an eine Quelle gelaufen, oft mit ihren Kindern auf dem Rücken und einem zentnerschweren Wasserkrug auf dem Kopf. Die jungen französischen Ingenieure dachten sich, dass man diese unglaubliche Plackerei hervorragend mit dem Staudamm umgehen konnte und, dass sich die Bewohner des Dorfes darüber auch freuen würden.
Wer nimmt denn ohne Grund Mühe und Last auf sich? Besteht nicht die gesamte Geschichte des menschlichen Fortschritts darin, unserer Faulheit nachzugeben und Methoden zu erfinden, die Dinge zu erleichtern? Die Spülmaschine übernimmt den Abwasch per Hand, das Fahrrad und Auto machen das Laufen quasi überflüssig, und der Roboter ersetzt die Handarbeit. Die Liste lässt sich fortführen.
Was aber in diesem afrikanischen Dorf passierte, entsprach ganz und gar nicht dieser Logik. Die Frauen waren zutiefst unglücklich und verärgert. Durch den Staudamm entfiel nämlich ein extrem wichtiges soziales Bindemittel: der gemeinsame Spaziergang zur Wasserquelle, wobei alle wichtigen Neuigkeiten, die es zu erfahren gab, ausgetauscht wurden. Der Staudamm hatte also das unsichtbare Beziehungsnetzwerk im Dorf verändert, und das nicht zur großen Freude aller Beteiligten.
“Und so ist das überall im Leben”, rundet Jean-Luc seine Erzählung ab. “Wer etwas bewirkt, bewirkt auch Nebenwirkungen.” 80 Jahre Lebenserfahrung geben ihm Recht.
So hat auch das Reisen seine Nebenwirkungen. Jeden Tag sechs Stunden Fahrrad zu fahren, mit Gepäck und über Berge hat sicherlich physische Nebenwirkungen. Auch mental wächst man beim Reisen, da man sich immer wieder auf neue soziale Situationen einstellen muss.
Ich stelle gerade fest, wie intensiv, aber auch bereichernd es ist, den ganzen Tag Französisch zu sprechen. Das ist wahrer Hochleistungssport für den Geist. Vermutlich ist mein Kopf am Ende dieses Tages erschöpfter als die Beine!
Doch dann passiert etwas, womit ich in der kulinarischen Hochburg Frankreich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte…