Tag 2/3/4: Die erste Etappe

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Tag 2

Das Reisen gibt mir schnell Zuversicht, dass die grundsätzliche menschliche Natur gut ist. Ganz anders, als ich es oft in den Nachrichten lese. Oft sind es nur Kleinigkeiten: Heute war es eine Frau, die ihr Fenster an einer roten Ampel herunterkurbelte, weil sie sah, dass ich nach dem Weg suchte. Sowas stimmt glücklich. Das beste Beispiel ist Katja von gestern. Einen Wildfremden bei sich übernachten zu lassen: das erfordert Mut und Vertrauen. Ich frage mich, ob Katja vielleicht manchmal einsam ist in ihrem abgelegenen Haus? Tun wir Gutes auch aus vollkommen selbstlosen, altruistischen Gründen? Egal, letztlich spielt es keine Rolle. Katja hat gezeigt, dass Vertrauen belohnt werden kann mit den schönsten Erlebnissen. Wieviel man verpasst, wenn man verschlossen und misstrauisch durch die Welt geht? Mir hat Katjas liebevolle Art tief imponiert. Offenheit, Interesse und einen guten Vitamintrunk zum Frühstück – das ist, was die Welt braucht!

Tag 3

6:45

Es war eine ziemlich kalte Nacht. Ich hatte 2 Paar Hosen an, einen Pulli, Fleecejacke und Windjacke. Es war feucht, und durch den Atem hat sich ordentlich Kondenswasser am Zelt gebildet. Mein rechtes Knie tut seit dem ersten Tag der Tour beim Beugen weh, auf der linken Seite der Kniescheibe. Es ist ein kleiner Knubbel da und gefühlt verschlimmern lange, enge Sporthosen den Schmerz. Die Nacht war unruhig, habe in vielen Positionen geschlafen. Ich fühle mich aber trotzdem gut erholt. Als ich heute früh den Reißverschluss vom Zelt öffnete, sah ich, dass das ganze Zelt von außen mit kleinen Eiskristallen bedeckt war. Sie funkeln zauberhaft in der aufgehenden Sonne. Es muss unter 0 Grad gewesen sein.

13.00. Gerade sitze ich bei schönstem Sonnenschein in Marburg. Ich sitze nicht irgendwo, sondern vor dem besten Döner, den ich kenne. Wirklich Hunger habe ich noch nicht, aber ein alter Radreisespruch besagt „Eat before you are hungry!“ (Esse vor dem Hunger!). Radreisen ist eine Übung in Gelassenheit und Ausdauer. die Balance finden zwischen Nachhaltigkeit und Zielerfüllung. Bestes Beispiel ist mein Knie. Ich muss jetzt eben etwas langsamer fahren. Geduld brauche ich, sie wird sich langfristig auszahlen. Noch 35 Kilometer nach Gießen. In meinem Kopf wird es langsam still. Doch das ist schön, man wird vom Fluss getragen. Ich hänge zufälligen Eindrücken nach und lasse mich treiben. Es radelt mich.

Eben sind 3 Düsenjäger vorbeigeschossen. Die Düsenflieger sind weg, aber drei Rußspuren hängen noch im Himmel. Die Melodie von Nenas „99 Luftballons“ spielt in meinem Kopf. Da singt Nena auch von Düsenfliegern. Jeder war ein guter Krieger…

Plötzlich fällt mir wieder ein, in der Ukraine wird gekämpft. Und im Jemen, Syrien, Kongo, Äthiopien, etc. Wenn ich Fahrrad fahre, entfernt sich alles, was mich nicht unmittelbar betrifft. Meistens, wenn ich denn denke, denke ich über Essen nach. Auch Wasser, wo ich übernachte und die Landschaft kommen in meinen Gedanken vor. Das Weltgeschehen jedoch eher weniger. Das abgekoppelt Sein hat gute Seiten. Ich werde reflektierter. Ich habe keine täglichen Nachrichten, die Emotionen und Mitgefühl erregen. Aber ich glaube auch, dass die ständige Erregung langfristig zu Abstumpfung und Gleichgültigkeit führen kann. Und das kann eine gefährliche Einstellung sein. Paradoxerweise ermöglicht mir der Abstand, nicht so schnell gesättigt zu werden und mehr Platz für Mitgefühl zu haben. Wie bei einer Geige, muss man den Gedanken den Raum geben, der Schwingungen aufnimmt, verstärkt und Resonanz ermöglicht.

Tag 4

7:00

Zwei Götter grüßen: der Vollmond der Nacht und die flammende Sonne, die just in diesem Moment den Horizont erklimmt. Die Krähen haben mich geweckt. Ich höre sie immer noch. Gestern gegen 18:30 Uhr habe ich an einem Bauernhaus geklingelt, und gefragt, ob ich auf einer angrenzenden Wiese schlafen kann. Kein Problem. Ich habe erholsame 10 Stunden geschlafen und jetzt bin ich bereit für den letzten Abschnitt nach Usingen. Ich bin gespannt, ob meine Knie mitmachen. Sie fühlen sich nach dem Schlafen immer ziemlich steif und schmerzhaft an. Hoffentlich erholen sie sich schnell. Aber noch einmal: Radreisen ist Ausdauersport. Ich muss die Tatsachen akzeptieren, stoisch bleiben und die Energie dort einsetzen, wo und wann es sich lohnt. Zum Läuten von Kirchenglocken mache ich mich auf den Weg.

Die letzten 30 km an der Lahn vergehen wie im Flug. Als ich dann allerdings die allerletzten Kilometer nach Usingen in Angriff nehme, fangen meine Knie wieder an zu Schmerzen. Ich treffe eine Entscheidung: Ich muss weniger Gewicht mitnehmen. Das Kochgeschirr muss in Usingen bleiben, und auch für einige Klamotten ist bei meinen Großeltern Schluss. Gleiches gilt für den Hammer, den ich nur für die Zeitheringe mitgeschleppt habe!

Am Hattsteinweiher erlebe ich dann eine Überraschung. Papa, Pascal und Opa! Opa ist mit seinem Rollator den ganzen Weg zum Weiher gelaufen. Abends sitzen wir dann alle zusammen am Esstisch und trinken Rum mit Eierlikör (außer Papa, der Eierlikör widerlich und abstoßend findet).

Insgesamt bleibe ich zehn Tage in Usingen, in denen sich meine Knie ganz wunderbar erholen und nach denen ich mich ordentlich gestärkt ins große Abenteuer stürzen kann.

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