Tag 22: Ruhe oder Arbeit, Egoismus oder Altruismus

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10:00

Ich genieße es, entspannt im Bett zu liegen.  Jean Pierre und Michèle haben mir ihr Haus überlassen. Ich darf bleiben, solange ich möchte und mich frei bedienen. Das nenne ich Vertrauen, und wäre sicher nicht gegangen, wenn wir uns nicht so gut auf Französisch hätten unterhalten können.

Heute ist ein Ruhetag. Ausschlafen, essen, Fahrrad in Schuss bringen und für morgen etwas einkaufen. Es ist das perfekte Kontrastprogramm zu den 1850 Höhenmetern die ich gestern gefahren bin.

Ich erinnere mich in diesem Moment an einen Satz, den mein Gastgeber Erik in Bad Säckingen gesagt hat.

“Das Fahrradfahren darf nicht zur Arbeit werden.”

Es sollte die schönste Nebensache der Welt bleiben.

Das ist nicht ganz einfach hinzubekommen. Auf einer längeren Tour wird irgendwann das Radfahren zur Selbstverständlichkeit, zur Routine. Die schönste Landschaft verliert irgendwann ihren Reiz. Und der zehnte Pass mit anschließender Serpentinenabfahrt ist auch nur noch eine Statistik. Wenn man eine Strecke “abarbeiten muss”, dann ist das Radfahren zu genau dem geworden, was es nicht werden sollte. Zu einer Arbeit.

In der normalen Arbeitswelt hat man Wochenenden. Idealerweise wird die Woche also in eine Phase der Anspannung (Arbeit) und der Entspannung (Wochenende) unterteilt. Dasselbe Schema findet man natürlich auch innerhalb eines Tages wieder.

Das Fahrradfahren ist am ehesten zu vergleichen mit einem körperlichen Beruf. Das Wochenende und der Feierabend dienen der Erholung des Körpers und der Erfrischung des Geistes. Bei akademischen Berufen ist es tendenziell umgekehrt: Wochenende und Feierabend dienen der Erfrischung des Körpers und der Erholung des Geistes.

Entscheidend ist, einen Ort zu haben, wo man zur Ruhe finden kann. Einen Ort, wo man ungestört ist und seine Privatsphäre hat. Wo man sich aufs Bett ausbreiten kann, und nichts tun muss. Genau dieser Ort fehlt oft beim Radreisen. Das Zelt ist hier kein Ersatz. Ich jedenfalls würde nicht zwei Tage im Zelt hocken bleiben.

Die Konsequenz: Man wird als Radfahrer schnell ein Getriebener, und macht den fatalen Fehler, die Komponente der Entspannung zu vernachlässigen. Man kommt nie zur Ruhe, sondern ist immer in Bewegung. Dadurch kann sich weder der Körper noch der Kopf erholen.

Die schönste Nebensache der Welt wird so zu einer Mühsal und man verliert tatsächlich die Wertschätzung für die Besonderheit dessen, was man tut. Wie wunderbar es ist, dass man so lange mit dem Fahrrad unterwegs sein kann und Eindrücke sammeln kann, die einem sonst verwehrt bleiben würden.

Stattdessen wird es immer schwieriger sich zu motivieren, am nächsten Tag wieder aufs Fahrrad zu steigen. Da helfen auch die schönsten Strecken und das beste Wetter nicht mehr weiter.

Ich kenne dieses Gefühl sehr gut aus vorherigen Touren. Am Ende war ich froh, dass es vorbei war. Der Genuss am Radfahren war mir vollkommen abhandengekommen. Das hielt aber immer nur genauso lange an, wie es brauchte, bis sich der Körper und Kopf gut erholt haben.

Gut erholt hatte ich mich immer dann, wenn ich anfing in schwärmerischen Tönen meine letzte Tour zu erzählen und in meinen Tagträumen wieder überlegte, wo es als nächstes hingehen könnte.

Das Fazit: Man kommt weiter, wenn man Pausen einlegt. Das gilt beim Sport, beim Lernen, im Beruf und noch viel mehr. Die Wertschätzung dafür steigert sich in ihrer Abwesenheit.

22:00

Jean Pierre und Michelle sind am späten Nachmittag zurückgekehrt. Sie hatten eine gute Zeit am Mittelmeer, sind aber auch erschöpft nach über 1000 km Autofahren. Trotzdem reicht es am Abend zu einer philosophischen Diskussion, ob wir immer mehr zu einer Gesellschaft von Egoisten werden.

Michelle erzählt, wie sie gerne mehr Menschen im Ort kennen würde. Diese sind aber immer nur zurückgezogen und haben gar kein Interesse an gemeinschaftlichen Projekten teilzunehmen. Ein bisschen mehr Gemeinsinn und Austausch würde der Gesellschaft guttun, meinte Michelle. Doch dazu würden wir nicht gerade konditioniert.

Wenn jeder das nächste Angebot jagt, und dabei schneller sein muss als sein Nebenmann, um nicht leer auszugehen, dann setze dies die falschen Anreize. Ich gegen die anderen, statt ich mit den anderen. Wer da an andere denkt, der ist der Idiot.

Mein Lieblingsbeispiel, dass wir in manchen Bereichen zu individualistisch denken, ist der große Pool im Garten. Statt für wenige Euro ins Freibad zu gehen, stellen wir uns einen viel kleineren aber wesentlich teureren Swimmingpool in den eigenen Garten. Warum?!

Haben wir plötzlich Angst bekommen, das Wasser mit anderen Menschen zu teilen? Oder sind wir zu faul geworden, den Weg zum Freibad zu gehen? Oder wollen wir uns mit dem Pool im Garten einfach die Möglichkeit schaffen, zu jedem Zeitpunkt eine Abkühlung verfügbar zu haben? Selbst wenn wir diese Möglichkeit nur an wenigen Tagen im Jahr wahrnehmen und dieser Pool dann auch noch zum “Schwimmen” völlig ungeeignet ist.

Vermutlich geht es tatsächlich genau darum, ein bisschen Pool nur für uns zu jedem Zeitpunkt verfügbar zu haben. Ein perfektes Beispiel für die sogenannte “Individualisten-Gesellschaft”.

Wir denken doch wirklich meistens in kleinen Kreisen. Der Rest übersteigt einfach unsere Auffassungsgabe und verblasst im Vergleich mit vermeintlich wichtigen Dingen wie Prestige, Status oder Bequemlichkeit.

Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir uns mehr an der Ordnung im Bienenstaat orientieren würden, schlägt Michelle vor. Da wird das gemacht, wovon das Nest als Ganzes profitiert.

Jean Pierre lacht laut. In so einem Staat würde ich nicht leben wollen! Das wäre viel zu autoritär. Vom Tag meiner Geburt an wäre genau festgelegt, welche Aufgaben ich wie lange und in welchem Zeitraum wahrzunehmen hätte. Für die freie Selbstentfaltung ist da kein Platz.

Ich wende ein, dass man in der Geschichte tatsächlich schon öfter die menschliche Gesellschaft mit einem Bienenstaat verglichen hat. Das diente oft zur Rechtfertigung einer klaren Standesordnung und der Monarchie. Wenn sogar die Bienen eine Königin haben, und Bienen sind ja nun wirklich fleißige und gut organisierte Tiere, dann muss dieses Modell auch für die menschliche Gesellschaft das Beste sein. So schlussfolgerte man jedenfalls.

Das war natürlich immer sehr stark aus der Perspektive der jeweils Herrschenden argumentiert. Keiner sagt, dass die Schlussfolgerung aus der Sicht der Arbeiterbiene, die sich zu Tode schuftet, die gleiche wäre.

Uns wird die Diskussion über Egoismus und Individualismus bestimmt noch lange beschäftigen. Wir führen solche Diskussionen nur, weil wir nicht unter viel schlimmeren Dingen leiden, wie Hunger oder Existenzangst. Ich jedenfalls bin froh, dass ich in Jean Pierre und Michelle zwei ganz und gar nicht egoistisch orientierte Menschen gefunden habe. Ebenso freue ich mich jetzt auf einen guten Schlaf. Gute Nacht!

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