Tag 23: On the Road Again

  • 6 mins read
  • Published

Nattages -> ein Dorf in der Nähe vom Lac de Paladru

Heute übernachte ich bei Nathalie und Yves. Zunächst war ich an ihrem Haus vorbeigefahren. In mir tobte ein Konflikt, ob ich noch eine Stunde weiterfahren sollte oder ob ich schon für die Nacht eine Pause einlegen sollte. Ich hatte fast 80 km geschafft mit knapp 2000 Höhenmetern, also hatte ich meinen Feierabend wohl wirklich verdient.

Hinter mir lagen der Col du Chat und der Col de l’Épine sowie diverse kleinere Anstiege.

Allerdings war es noch nicht 18 Uhr und ich hätte gut noch weiterfahren können. Doch wenn man ein Ding lernt auf einer langen Radtour, dann ist es, dass gute Chancen nicht zweimal kommen. Dass man also die Gelegenheit ergreifen muss, wenn sie sich bietet.

Daher machte ich nach einigen Metern noch kehrt und fuhr zurück. Ich fragte das Pärchen, die auf einer Bank in der Sonne einen Wein tranken, ob sie einen Platz kennen, wo ich mein Zelt aufschlagen kann. Ob es vielleicht sogar möglich wäre, hier im Garten.

Die beiden waren sehr zuvorkommend und Yves zeigte mir sogleich, wo ich mein Zelt aufstellen konnte. Wir redeten gemütlich zwei Stunden in der Sonne ich erzählte den beiden über meine Tour, wo bisher übernachtet habe und was ich erlebt habe.

Die beiden erzählten mir über ihr Leben und ihre Kinder. Sie kennen sich noch gar nicht so lange – erst seit etwa 8 Monaten. Die Frau, Natalie, kommt aus der Gegend um Grenoble. Yves hingegen ist ein echtes Urgewächs der Region, doch hat auch viele Jahre bei Siemens in Grenoble gearbeitet. Yves und Nathalie verbringen immer die Wochenenden und Ferien zusammen und erfreuen sich an der gemeinsamen Zeit, wollen aber auch ihre Selbstständigkeit wahren.

Nathalie ist total begeistert von meinem Unterfangen. Sie erzählt von ihrer Tochter, die jedes Jahr 10 Tage in der Bretagne gewandert ist. 40 km am Tag, mit Rucksack.

Natalie erzählte mir, wie mutig ich sei, so etwas zu tun. “Du bist ja noch so jung!”, sagt sie immer wieder.

Eine solcher Passstraßen, durch die noch junge Belaubung der Bäume vor der Sonne geschützt.

Als ich erzähle, dass ich an diesem Tag drei Pässe gefahren bin mit knapp 2000 Höhenmetern, sagt Yves, dass er so etwas nur mit dem Motorrad machen würde.

“Auch ein schöner Sport,” sage ich, “Man ist sehr unmittelbar mit seiner Umwelt in Kontakt. Nicht, wie beim Auto.”

“Ja”, sagt Yves, “aber auch gefährlich. Ich hatte vor einiger Zeit einen heftigen Motorradunfall, da wollte ich ein E-Bike überholen. Na ja, die Entfernung war zu knapp, es ging nicht gut.” Er schaut nachdenklich. “Das hat mein Bein ordentlich in Mitleidenschaft gezogen”.

Man sieht die Folgen. Yves hinkt. Die Folgen eines Fehlers, die ihn den Rest seines Lebens begleiten werden.

Yves ist ein großer stämmiger Mann mit dünnem, braunem Haar. Er lacht freundlich und macht gern Scherze. Yves ist Ornithologe, das heißt, dass er Vögel beobachtet und sie identifiziert. Er erzählt mir begeistert von der Vielfalt der Gartenvögel, die er auf seinem großen Grundstück sehen kann. Stieglitz, Grünfink, Blaumeise und viele mehr, wo mir die Namen fehlen. Das ist richtige Entspannung erzählt er. Man geht in so einem kleinen Vogel auf und vergisst dabei sich selbst, seine Sorgen und Probleme.

Vor 2 Jahren ist Yves Frau an Lungenkrebs gestorben. Es war nicht einfach, mit dem Verlust und der plötzlichen Einsamkeit umzugehen. “Ich war wie ein Gefangener, ich wusste nichts mehr mit mir anzufangen. Was macht man denn den ganzen Tag?”, sagt Yves, und zieht die Schultern hoch. In dieser Zeit fasste Yves den Entschluss, aus seiner beklemmenden Wohnung in Grenoble wegzuziehen. Sein verstorbener Onkel hatte ihn ein Bauernhaus vermacht, mit riesigem Grundstück. Stück für Stück hat Yves es mühsam renoviert. Nur die obere Etage fehlt noch. “Das war meine Aufgabe” meint Yves, und ist sichtlich stolz, zurecht.

Yves und Nathalie haben mich sehr nett bekocht. Wir haben eine regionale Wurst ausprobiert, dazu gab es einen leckeren Salat und Omelett. Später zeigte ich den beiden noch Fotos von meiner Reise. Es ist ein bisschen schwieriger ihr Französisch zu verstehen, als das des vorherigen Ehepaars. Aber es geht und ist auf jeden Fall ein gutes Training für mich.

Nathalie meint, sie habe Verwandte, die nach Kanada ausgewandert sind. Ich erzähle, dass ich mal eine Stunde nördlich von Chicago gelebt habe. In Kanada bin ich aber noch nie gewesen. Ist es nicht komisch, dass man seine Heimatregion für selbstverständlich ansieht? Dass man als Einheimischer seine Gegend oft schlechter kennt als ein Reisender auf Zeit?

Es hat einen Vorteil, nur für begrenzte Zeit eine Gegend bereisen zu können. Mein teilt sich seine Zeit genauer ein und versucht alle möglicherweise interessanten Dinge anzuschauen. Wenn man hingegen irgendwo lebt, verbringt man oft Wochen, Monate und Jahre damit, belanglosen Dingen nachzugehen und schaut sich gar nicht wirklich seine Gegend an. Es gäbe ja noch Zeit, das zu tun. Man wird schließlich auch noch die nächsten Jahre in der Gegend leben. Es gibt also keine Zeitknappheit.

Knappheit ist jedoch oft eine gute Sache. Knappheit veranlasst die Prioritätensetzung. Und Prioritätensetzung ist der Schlüssel, um Ziele auch in Angriff nehmen zu können. Könnte es sein, dass viele Menschen in meiner Altersgruppe ziemlich orientierungslos sind, weil sie alles in Hülle und Fülle haben? Es gibt keine Knappheit an Geld, keine Knappheit an Freiheit, keine Knappheit an Freizeitmöglichkeiten. Auch gibt es keine Bildungsknappheit und keine Knappheit an Chancen. Wir haben die Knappheit in unseren Gefilden ziemlich gut besiegt. Die Knappheit ist bei uns K.O. – bis auf nur wenige Ausnahmen.

Am leichtesten lässt sich unsere Energie allerdings kanalisieren, wenn wir gegen eine Knappheit ankämpfen müssen. Deshalb geht es Studenten oft so, dass erst wenige Tage vor dem Abgabetermin wirklich an einer Aufgabe gearbeitet wird. Hier wird plötzlich die Zeit knapp, und man muss seine Energie zielgerichtet einsetzen.

Wenn aber in fast allen Lebensbereichen die Knappheit besiegt ist, was treibt einen dann noch an, seine Energie zielgerichtet einzusetzen und klare Prioritäten zu setzen?

Vermutlich nur die Dinge, für die man sich intrinsisch motivieren kann. Etwas, was sinnstiftend ist. Wo früher Knappheit die Entscheidungen lenkte, ist es heute der Sinn. Und der ist leider nicht einfach und eindeutig festzumachen. Orientierungslosigkeit ist die Folge.

Auf meiner Radtour sehe ich, dass die schönsten Momente oft die sind, die ich mit netten Menschen verbringe. Ich würde also die Finger von der abstrakten Sinnfrage lassen – die klärt sich von alleine, sobald man eine nette Gemeinschaft hat. Dann ist es ganz leicht zu beantworten, warum man etwas tut. Der Mensch – ein soziales Geschöpf.

Author

Leave a Reply