Tag 30: Regenwetter und Religion in den Cevennen

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115Km, 10 Stunden, 2000 Höhenmeter.

Die letzten 6 Stunden gab es Regen, der die Straßen zu Bächen verwandelte.

Der letzte Anstieg reicht mir. Es ist 19:00 und ich fahre seit fast zehn Stunden Fahrrad. Die Straße windet sich immer weiter den Berg hinauf, und ich weiß: Je hoher ich komme, desto rarer werden die Schlafplätze.

Plötzlich taucht in einer Kurve eine Einfahrt auf. Ich überlege nicht lange und fahre rein. Einen 200 Meter langen Schotterweg geht es hinab, dann taucht ein altes, aber gepflegtes Steinhaus auf. Auf mein Klopfen reagiert erst keiner, doch ich sehe im Wohnzimmer ein Feuer, vor dem eine alte Frau sitzt.

Ich habe Glück, denn da kommt ein Mann vom Hintergarten auf mich zu gestapft.

„Bonjour, je fais un voyage avec mon vélo.“, sage ich, „Serait-il possible de planter ma tente ici?“ Ich deute auf die weitläufige Rasenfläche.

„Bonjour! Tu viens d’ou?“, fragt der Mann, in Militärkleidung.

„Du nord d’Allemagne. J’habite à une ville qui s’appelle Münster.“

„Ah, Münster. Kenne ich!“, sagt der Mann in gutem Deutsch, und führt aus: „Ich bin Soldat, war auf der Bundeswehr Akademie in Mühlheim.“ Er heißt Jean Philippe.

„Mühlheim an der Ruhr?“

„Nein, im Süden, in der Nähe der Schweiz.“

„Alles klar, da war ich dann noch nicht.“

„Komm mit, Herr Baumeister!“, sagt Jean Philippe. Er nennt mich stets Herr Baumeister.

„Du kannst natürlich auch zelten, aber ich denke, dass ich dir etwas viel Besseres bieten kann.“

Jean Philippe schließt eine Tür im Untergeschoss auf, und enthüllt eine Einliegerwohnung. Altmodisch, aber sehr bequem, mit dem typischen Kellergeruch älterer Häuser.

„Na, was sagst du. Willst du immer noch zelten?“

„Wow, da kann ich nicht nein sagen. Das ist um Welten besser als ein feuchtes Zelt!“

Jean Philippe zeigt mir alles, dann gehen wir hinaus.

Oben auf dem Balkon taucht seine Frau auf, Pauline: Groß, schlank, braune Haare hinten verknotet.

Die alte Frau, die ich vor dem Kamin sah, kommt auch hinaus. Im Türrahmen erscheint ein Junge, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Das muss der Sohn sein.

„Wollen Sie mit uns essen?“, fragt die alte Frau.

„Wenn es für Sie kein Umstand ist, gerne!“, antworte ich.

„Wann ist das Essen fertig?“, fragt Jean Philippe die ältere Frau. Sie ist seine Mutter, wie ich später erfahre.

„20:30“

„Gut, dann richte dich ein und klopfe einfach an der Balkontür, wenn du fertig bist, Herr Baumeister.“

Wir sitzen vor dem offenen Kamin.

Im Feuer brutzelt eine Wurst, bestimmt 80cm lang und wie eine Schnecke aufgerollt. Unser Abendessen. Meine Gastgeber sind neugierig, wo ich herkomme.

Ich erzähle von meiner Familie, meinen Geschwistern, dem Studium und der Reise.

Meine Gastgeber berichten, dass sie 6 Kinder haben. Davon leben aber nur noch die jüngsten beiden zuhause, ein Junge und ein Mädchen.

Sie leben seit 35 Jahren in ihren Ferien auf dem alten Bauernhof, davor wurde er 260 Jahre lang aktiv bewirtschaftet.

Die Familie ist sehr gläubig, streng katholisch. Vor dem Essen wird im Stehen ein langes Gebet gesungen. Dann setzen wir uns an den runden Esstisch. Die Wurst ist köstlich! Nicht nur die Deutschen können gute Wurst machen, so viel steht fest.

Beim Essen erzählt mir die Großmutter, dass in der Wurst Wildschwein ist.

„Gibt es hier viele Wildschweine?“, frage ich. Wir sprechen Französisch.

„Oh ja!“, sagt die Großmutter. „Die sind zu einer echten Plage geworden. Früher hielten sie sich nur im Tal auf. Mittlerweile sind es aber so viele, dass sie immer weiter den Berg hochkommen. Auch zu uns.“

„Aber warum gibt es plötzlich so viele?“, frage ich. Große Felder mit viel Fressen gibt es hier nirgends.

„Die Restaurants… sie züchten Wildschweine und setzen sie dann frei für die Jagd. Es gibt einen großen Bedarf nach Wildschweinfleisch. Aber dummerweise hat man sich verrechnet, und jetzt sind es zu viele.“

„Sie kommen sogar in unseren Garten“, erzählt Pauline.

„Ja!“, ruft die Großmutter, „Ich habe sogar gesehen, wie sie in unserem Teich geschwommen sind!“

„Sie haben alle Scheu vor Menschen verloren. Oder nie gehabt, im Falle der gezüchteten Wildschweine.“, resümiert Jean Philippe.

„Gibt es hier in der Gegend eigentlich noch viel Landwirtschaft“, frage ich.

„Nein, kaum noch“, antwortet die Großmutter. „Heute sind das hier fast alles Ferienwohnungen und Ferienhäuser für Menschen aus der Stadt. Wir haben uns dieses Haus auch vor 35 Jahren gekauft. Jetzt sind wir immer in den Ferien hier zu Besuch, aber bewohnen tun wir es nicht.“

Jean Philippe erklärt, „Dieses Haus war 260 Jahre lang ein Bauernhof, mit 30 Hektar Fläche. Die haben wir zur immer noch, aber bewirtschaften tun wir sie nicht mehr.“

„Was hat man denn früher in so einer schroffen Gegend gemacht, um zu überleben?“, frage ich.

Jean-Philippe sagt, „Sois – Seide.“ Der Wohlstand dieser Region begründete sich 200 Jahre lang auf Seide. Und das war ein einträgliches Geschäft! Bis etwa 1920, wo die ersten synthetischen Seidenstoffe anfingen, den Markt zu erobern.

Die Großmutter fügt hinzu, „Hier gibt es viele Maulbeerbäume, und darauf leben die Seidenraupen. Diese hat man gezielt angesetzt und gezüchtet, um Seide zu gewinnen.“

„Im Winter“, erzählt Jean Philippe, „trugen die Frauen Behälter in ihrem Korsett, in denen die Raupenlarven heranwuchsen. Durch die Körpernähe konnten die Larven in einer konstanten Temperatur aufwachsen. Hatte man alles richtig gemacht, konnte man im Frühjahr viele Raupen aussetzen und Seide gewinnen.“

Die Seide wurde dann anschließend gesponnen, und mit dem Boot nach Lyon oder Marseille transportiert. Dort wurde sie dann weiterverkauft. Doch ab dem ersten Weltkrieg rentierte sich die Seidenproduktion immer weniger.

Heute ist die Region eigentlich nur noch im Sommer belebt. Die Infrastruktur ist schlechter geworden, und da es wirtschaftlich nichts mehr zu holen gibt, wird auch nicht investiert.

„Früher ist hier einer Eisenbahn bis ins Tal gefahren.“, sagt die Großmutter. „Heute nicht mehr: man hat die Schienen abgebaut. Jetzt ist man wirklich auf das Auto oder den Gemeinschafts-Bus angewiesen.“

Aber nicht nur die physische Infrastruktur nehme ab, sondern auch die geistliche, die religiöse. Die Großmutter schüttelt ihren Kopf über die Lebensweise der meisten Franzosen heutzutage. „Religion bedeutet für die meisten nichts mehr. Das muss sich wieder ändern – die jungen Leute müssen sich wieder Gott zuwenden.“

„Was hast du für ein Konfession?“, fragt mich Pauline.

„Protestantisch.“

„Oh, dann müssen wir ja vorsichtig sein!“, scherzt Jean Philippe. „Wir sind nämlich gläubige Katholiken.“

„Sind deine Eltern auch protestantisch?“, fragt Pauline weiter.

„Meine Mutter ja, mein Vater ist katholisch.“

Kurz Stille. Die Großmutter verschluckt sich fast, murmelt „Nanu, was es heutzutage alles gibt…“. Sie kann es kaum fassen.

Ach, stimmt ja, denke ich, als ich die Reaktion beobachte. Das ist natürlich ein Fauxpas für sehr strenge Katholiken…

Ich möchte das Thema etwas umlenken, und frage, ob es in Frankreich viele unterschiedliche Kirchen gebe. Ich erzähle, dass es in Amerika hunderte von religiösen Splittergruppen gab. Die Individualisierung der Religion sozusagen. Das passende Angebot für jeden Kunden.

Das sei in Frankreich nicht der Fall, erzählt Pauline. Aber in den letzten Jahren kamen tatsächlich immer mehr Kirchen dazu, meist aus Amerika. Die fänden aber bisher nur in den Städten Anhänger.

„Wir halten von dem ganzen gar nichts“, erzählt Jean-Philippe. „Das sind Sekten, nichts anderes.“

„Wir sind stolz auf unseren Glauben“, erklärt Pauline. „Unsere dritte Tochter geht jetzt ins Kloster als Nonne. Wir dürfen sie dort einmal im Monat im Kloster besuchen, sonst kann man sich nur Briefe schreiben. Wenn sie uns besuchen möchte, müssen wir durch einen Vorhang getrennt werden.“

„Das ist ein großes Opfer, was man erbringen muss“, sage ich ernst.

Pauline nickt. „Wir tun es gerne, auch wenn es uns als Eltern schwerfällt. Es ist unsere Pflicht. Und wir sind sehr stolz auf unsere Tochter.“

Ein spannender Abend, bei dem ich wieder eine ganz neue Lebenswelt kennenlerne, geht zu Ende. Wir stoßen an mit einem Apfelschnaps. „Gut für die Verdauung!“, meint Jean Philippe.

„Mein Vater brennt den Schnaps selbst“, erzählt Pauline. Sie stammt ursprünglich aus der Normandie, dort ist der Apfelschnaps Kulturgetränk.

Jean Philippe sagt, es gebe dort einen Test, den jedes Neugeborene bestehen muss. Und der sieht folgendermaßen aus.

Man trinke einen großen Schluck Apfelschnaps, werfe das Neugeborene hoch in die Luft, und wenn es sicher gefangen wird, hat es verdient zu leben. Wenn nicht… dann hat sich die Sache soeben erledigt.

Ziemlich brutal. Was genau die Aussage dahinter ist, weiß ich nicht. Vielleicht, dass nur Eltern, die Apfelschnaps vertragen Kinder bekommen sollten…?

Wir wünschen uns eine gute Nacht, dann steige ich durch den Garten hinunter zu meiner Einliegerwohnung.

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