Tag 31: Wahltag in Frankreich

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Sonntag, 24. April. Präsidentschaftswahl Frankreich

8:45

Das Frühstück ist typisch französisch. Weißbrot mit Butter und Marmelade, dazu einen Kaffee. Jean-Philippe und Pauline machen sich noch fertig für die Kirche, aber die Großmutter ist schon da. Während der Junge das Feuer anstochert, unterhalte ich mich mit der Großmutter.

„In dieser Gegend leben noch viele alte Menschen, oder?“, frage ich.

„Ja“, antwortet die Großmutter, „aber viele von den Häusern, die du hier siehst, sind jetzt Feriendomizile.“

„Wie machen es denn die älteren Leute, wenn sie nicht mehr mobil sind, in so einer Gegend?“

„Ja, ohne Auto ist man aufgeschmissen, jedenfalls seitdem es den Zug nicht mehr gibt. Aber es gibt zum Glück einen Lieferdienst der Supermärkte, der Essen vorbeibringen kann. Da können sich dann auch ältere Leute, die ans Haus gebunden sind, etwas kaufen. Ansonsten läuft viel über die Nachbarschaft: der eine hilft dem anderen.“

Pauline und Jean-Philippe kommen hinunter. „Wir werden nach dem Gottesdienst wählen gehen.“, sagt Jean-Philippe.

Es ist der 24. April: ein neuer französischer Präsident wird gewählt. Zur Auswahl stehen Emmanuel Macron und Marine Le Pen.

„Was denkst du denn vom derzeitigen Präsidenten?“, fragt mich Pauline. Ich bemerke die Distanz – Pauline sagt nicht „unseren Präsidenten“.

„Ich denke, er ist mit großen Visionen gestartet, und wurde dann von der Realität konfrontiert.“, antworte ich. Es ist eine Aussage, die ich tatsächlich für richtig halte, die dennoch neutral ist.

„Das stimmt vollkommen. Wir sind nicht sehr zufrieden mit der derzeitigen Politik“, sagt Pauline. „Wir mögen Macron nicht sehr. Wir finden seine Politik schlecht für Frankreich.“

„Was würdet ihr denn sagen, ist das größte Problem in Frankreich?“, frage ich.

Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.

„Immigration“, sagt Jean-Philippe und führt aus, „Seit Macron im Elysee-Palast ist, sind über zwei Millionen Afrikaner nach Frankreich gekommen. Die kommen aus einem vollkommen anderen Kulturkreis, und wir haben oft erlebt, dass sie sich überhaupt nicht integrieren.“

Die Großmutter erzählt von ihrem Friseur. „Ich war beim Frisör und eine Frau mit Kopftuch trat hinein. An der Kasse forderte sie, dass alle Rollos geschlossen werden, damit keiner sie ohne Kopftuch sehe! Das ist doch verrückt!“, ruft die Oma. „Man kann doch nicht für eine Kundin alle Rollos runter machen. Wo leben wir denn hier? Das ist kein Selbstbedienungsladen, wo jeder eine Sonderbehandlung bekommt.“

„Ein anderes Mal“, erzählt die Oma weiter, „war eine muslimische Kundin im Friseursalon, als der Ehemann der Friseurin den Raum betrat. Kurzerhand stand die Kundin auf, und verließ einfach den Raum. Nur ihr Ehemann oder eine andere Frau durften sie ohne Kopftuch sehen.“

„Und das sind nicht nur die Friseure, erzählt Jean-Philippe. „Man sieht immer mehr Halal-Metzgereien, immer mehr verschleierte Menschen. Man muss sich doch anpassen an das Land, wo man lebt! Wer das nicht tut, gehört hier nicht her.“

„Aber was hältst du denn von dem Ganzen?“, fragt mich Pauline.

„Für mich sind drei Dinge wichtig“, erzähle ich. „Erstens, dass Migranten schnell anfangen zu arbeiten, auch wenn es erstmal nur wenig angesehene Berufe sind – hierfür muss von beiden Seiten der Wille dazu vorhanden sein. Dann ist für mich entscheidend, dass die Sprache gelernt wird. Und drittens muss man versuchen, dass keine abgeschotteten Parallelgesellschaften entstehen.“

„Oh ja“, meint die Großmutter, „in Frankreich gibt es viele Ghettos, wo nur noch Muslime wohnen. Richtige No-Go-Areas, viel Kriminalität. Diese Probleme sollte man erstmal lösen, und die Lösung ist nicht, noch mehr solcher Leute ins Land zu lassen.“

„Leider gibt es kaum objektive Nachrichtensender, die diese Probleme behandeln.“, beklagt sich Pauline. „Man muss sich wirklich selektiv informieren, um an zuverlässige Informationen zu kommen. Die nationalen Sender sind ja alle auf staatlicher Linie. Die plappern alle nur Macron nach.“

„Übrigens“, führt Pauline fort, „was Macron macht ist extrem. Le Pen ist eigentlich überhaupt nicht ultra-rechts. Was sie vorschlägt ist eine vollkommen sinnvolle und ausgewogene Politik.“

„Das ist egal“, sagt Jean-Philippe. „Macron wird gewinnen, das Spiel ist abgemacht. Punkt!“

„Nein!“, widerspricht Pauline, „es gibt noch sehr viele unentschiedene Wähler. Da kann alles rauskommen. Bei Trump dachte auch keine Umfrage, dass er gewinnt.“

„Naja. Mal schauen. Wir werden jedenfalls unsere Stimme abgeben. Aber ganz sicher nicht für Macron.“, meint Jean-Philippe abschließend.

Politik ist damit erstmal abgehakt. Das war eine wirklich hochspannende Diskussion, mit Einblicken in eine ganz andere Sicht. Die Familie hat sich für die Kirche ordentlich schick gemacht und verabschiedet mich nun sehr herzlich. Auch wenn unsere Meinungen sehr unterschiedlich sind, habe ich mich als Gast sehr wohl gefühlt.

Wir machen zusammen ein Foto für die Erinnerung, und Jean Philippe sagt, dass ich auf der Rückreise gerne wieder vorbeikommen könne. Die politischen Ansichten mögen differieren, doch die Konstante ist und bleibt die Gastfreundschaft. 

Was ein Glück, dass ich nur Radfahrer und nicht Politiker bin, denke ich mir.

Mein nächster Stopp ist Saint-Félix-de-Lodez, eine kleine Gemeinde, wo ich Verwandte von Jean-Luc, meinem Gastgeber in Annecy, besuchen werde. Bis dahin stehen mir 4 Stunden radfahren mit etwa 60km bevor.

Ich bemerke schnell, dass hier in der Gegend ein neuer Gast zu Hause ist: der Wolf. Auf den Straßen steht immer wieder in Graffiti: „Pas de Loups!“ – „Keine Wölfe!“

In den Cevennen gibt es noch viele Schafzüchter, und die fürchten sich vor dem Wolf.

Regen und Wind wechseln sich ab, zum Ende kommt aber die Sonne hinaus. Es geht 700 Höhenmeter an einem Stück hinunter, eine berauschende Abfahrt. Plötzlich stehe ich inmitten mediterraner Gewächse, und die Erde ist rot wie in Australien.

Saint-Félix-de-Lodez:

Thierry und Véronique nehmen mich herzlich in Empfang. Mir wird sofort ein Kaffee angeboten. Sie sind schwieriger zu verstehen, da ihr Vokabular oft Wörter enthält, die ich nicht kenne. Aber es ist eine super Lernerfahrung. In der Sonne bauen wir mein Zelt auf, damit es einmal ordentlich auslüften kann. Es fing schon an, ziemlich muffig in meinem Zuhause zu riechen!

Auch meine linken Kurbelarm ziehen wir wieder fest, damit mir nicht auf der Fahrt plötzlich die Pedale abfällt. Das Spiel im Kurbelarm hatte mich auf den Anstiegen ziemlich gestört und zurückgehalten, da ich immer wieder absteigen musste, um die Schraube fest zu ziehen.

Thierry und Véronique haben 40 Jahre in Paris gearbeitet und gelebt. Vor zwölf Jahren sind sie in Rente gegangen und haben sich entschieden nach Süden zu ziehen. Hier liegen auch die Wurzeln von Véroniques Familie.

„Der Süden ist schon wirklich ein ganz anderes Gebiet als der Norden“, erzählt mir Véronique. „Hier ist das Leben langsamer. Mit der staatlichen Autorität nimmt man es nicht zu ernst. Es gibt viel Schwarzarbeit! Der Klempner fordert auch mal kurzerhand ‘geben sie mir das Geld bar auf die Hand.’ Im Norden wäre das vollkommen unvorstellbar!“

Véronique hat im Bildungswesen gearbeitet, und sie unterstützt Macron. Ihre Ansichten stehen diametrisch gegenüber denen meiner vorherigen Gastgeber. Es ist bereichernd beide Seiten des Spektrums an einem Tag zu erleben.

„Demokratie muss gelebt werden!“, erzählt mir Véronique. „Unser politisches System lebt vom Engagement seiner Bürger. Leider sind in deiner Altersklasse fast die Hälfte der Wähler abstinent. Das ist erschreckend!“

Ihre 12-jährigen Enkel, die zu Besuch sind, bringen da ein viel lebendigeres Interesse mit. Mit ihnen wird Véronique am Abend zum Rathaus gehen, um die Stimmenzählung zu begleiten. Simon und Thomas sind Feuer und Flamme. Sie kennen sich schon super aus mit der französischen Politik.

Simon erklärt mir: „Das Politiksystem in Frankreich ist wie in England. Es gibt zwei Kammern, die Nationalversammlung und den Senat. Der Präsident kann mit seinem Kabinett neue Gesetze vorschlagen, die dann in der Nationalversammlung und dem Senat diskutiert werden.“

„Vergiss nicht, die Durchsetzungsmöglichkeiten des Präsidenten“, erzählt Véronique. Sie führt aus, „Der Präsident kann in Frankreich auch gegen den Willen der Nationalversammlung und des Senates ein Gesetz beschließen. Das geschieht aber sehr selten, da das meistens große Proteste zur Folge hat. Erinnerst du dich an die Gillets Jaunes?“

„Ja.“

Simon und Thomas lachen. „Die Gelbwesten haben alle Blitzer mit Farbe übersprüht, deshalb konnte man so schnell fahren, wie man wollte.“

„So etwas würde wieder passieren“, erzählt Véronique. „Die Gelbwesten sind ja noch da. Und die Gewerkschaften in Frankreich sind sehr stark und gut organisiert. Die können sofort wieder Protest organisieren. Deshalb, obwohl der französische Präsident deutlich mächtiger ist als der deutsche Bundeskanzler in seinen Befugnissen, hat auch er unsichtbare Handschellen an.“

Dann stelle ich Véronique eine Frage, die ich meinen vorherigen Gastgebern in umgekehrter Form hätte stellen sollen: „Warum wählen die Leute Le Pen?“

„Ja, das ist eine schwierige Sache, und hat oft nichts mit rationalem Denken zu tun“, meint Véronique. „Macron hat ein Problem. Er wird als arrogant und überheblich angesehen. Jupiter nennen ihn die Franzosen abwertend, der Götterherrscher. Macron sitzt in Paris, seinem Olymp, und beherrscht von dort die Republik. Er macht große Gesten und nutzt Symbolik, Wörter, die dem normalen Dorfbewohner nichts sagen. Und deshalb mögen ihn viele Landbewohner nicht, auch hier auf dem Dorf.“

„Aber die Irrationalität sieht man am besten unter den Bauern und Arbeitslosen, die Le Pen wählen. Die Landwirte bekommen doch riesige Subventionen von der EU. Was ist deren Motivation, für jemanden zu stimmen, die genau gegen diese Institution ist?“

„Le Pen hat in ihrem Wahlkampf viele Versprechen gemacht, doch die werden sich nicht finanzieren lassen. Aber das interessiert hier viele nicht. Sie sehen nur eine Zahl an Euros, und wählen den Kandidaten, der ihnen mehr bietet.“

„Eine langfristige Perspektive haben viele Wähler überhaupt nicht! Es geht nur um den kurzfristigen Profit, Stimme gegen Geld. Ob die Versprechen realistisch sind, scheint vielen Wählern egal zu sein. Die wählen gerne Luftschlösser. Wenn so Demokratie gelebt wird, dann gute Nacht!“

„Viele Leute hier sind nie über ihre kleine Welt hinausgekommen.“, erklärt mir Veronique weiter. „Sie haben nicht oder nur indirekt profitiert von vielen Dingen, die Europa ausmachen. Offene Grenzen oder der Erasmus Austausch der Universitäten, das betrifft sie alles nicht direkt. Sie denken in der Größe eines Dorfes, doch nicht auf Landesebene oder gar supranational.“

Mich erinnert das an ein Zitat von Alexander von Humboldt: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.“

Was Le Pen besser geschafft hat als Emmanuel Macron, ist ein Gefühl der Gemeinsamkeit mit der Landbevölkerung zu schaffen.

Immer wieder betonte sie, dass sie die Kandidatin der echten, der richtigen Franzosen ist.

„Wir sind also keine echten Franzosen!“, sagt Véronique. „Lächerlich!“

20:00

Erleichterung.

58% zu 42% für Macron.

In Saint-Félix-de-Lodez gewinnt, wie in den meisten anderen Dörfern Marine Le Pen.

„Vielleicht ist das die Asterix- und Obelix-Mentalität“, sage ich zum Ergebnis im Dorf. „Die mutigen Gallier, die sich gegen eine repressive Obrigkeit (Paris/Macron) auflehnen. Das scheint in der französischen Seele verankert zu sein.“

Thierry lacht, „Ja, so ist das bei uns.“

In einem kandidatenbasierten Wahlsystem wie in Frankreich geht es immer um die persönliche Anziehung, die letztendlich den Wahlausgang entscheidet. Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung hat offensichtlich Marine Le Pen für „näher“ und zugewandter befunden. In den wohlhabenden Städten war das genau andersrum.

„Es ist eh schon so“, sagt Thierry, „dass viele nicht für den einen oder anderen Kandidaten gestimmt haben, sondern gegen die Alternative. Es wird deshalb sehr schwierig, die vielen verschiedenen Strömungen zu einem Ganzen zusammenzufügen und zufrieden zu stellen. Für Macron haben zum Beispiel auch Kommunisten und Sozialisten gestimmt, die Marine Le Pen nicht an der Macht sehen wollten. Sie haben sich die Nase zugehalten, und den Stimmzettel für Macron in die Urne geworfen.“

„Jetzt beginnt erst die harte Arbeit“, erzählt Veronique. „Im Juni sind die Wahlen für die Nationalversammlung. Wenn Macron hier die Mehrheit verliert, wird es sehr schwierig für ihn. Das wäre dann wie für Obama 2010.“

Es ist also noch lange nicht alles in trockenen Tüchern.

Wir sind gespannt. Ein langer ereignisreicher Tag geht zu Ende.

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