9:30
Ich habe gut geschlafen. Der Bauch hat sich nicht mehr gemeldet. Heute bleibt das Fahrrad in der Garage und ich gehe nur an den Strand. Petra und Jordi arbeiten, Max ist in der Schule. Es bleibt Gina, die zehnjährige Labrador-Oma, die mir Gesellschaft leistet. Gina hat Hunger! Während ich frühstücke, turnt sie um mich herum, in der Hoffnung, dass etwas für sie herausspringt.
Ich höre noch einen Podcast und spaziere dann gemütlich zum Strand. Dort sind einige Leute mit ihren Hunden unterwegs, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Zwei Schwimmer sind auch im Wasser. Ich habe keine Badesachen dabei, deshalb gehe ich nur mit den Füßen ins Wasser. Doch ich wage mich zu weit rein und eine Welle spritzt meine Hose nass. Ich setze mich also in die Sonne und warte gemütlich, bis meine Kleidung wieder trocken ist. Ich merke, dass ich die letzten Tage nur mit Sonnenbrille unterwegs war. Jetzt, ohne sie, ist die Sonne so grell, dass ich die Augen richtig zusammenkneifen muss.
15:30
Meine Tante ist damals zum Studium nach Barcelona gekommen. Anfangs war vieles für sie neu. „Ich wechselte von einem großen Konzern in ein kleines Familienunternehmen“, erzählt sie mir. „Plötzlich wurden Entscheidungen ganz locker im Gespräch mit dem Chef getroffen, statt durch eine lange Hierarchie zu gehen. In Spanien plant man nicht so viel: Man macht einfach und schaut was passiert. Man will ein Unternehmen gründen? Dann wird der Businessplan in einer Woche fertig gestellt und man geht damit zur Bank und beantragt einen Kredit. In Deutschland könnte man sich mit so etwas nicht blicken lassen.“
„Vielleicht ist es ja sogar besser so“, sage ich. „Wenn man zu lang mit dem Planen beschäftigt ist, vergeht einem die Lust am Unterfangen.“
„Ein Mittelweg ist gut“, meint meine Tante. „Die Konturen der Heimat werden oft erst in der Fremde klar“, führt sie fort. „In Deutschland ist man oft zu sehr mit dem Planen beschäftigt, in Spanien stürzt man dagegen oft naiv in etwas Neues und macht Fehler, die man hätte vermeiden können.“
So haben beide Vorgehensweisen ihre Tücken – und Vorteile.
„Was waren denn für dich die markantesten Unterschiede, als du nach Spanien gekommen bist?“, frage ich.
„Erstmal war ich erstaunt, was für einen guten Ruf Deutschland im Ausland genießt. Im Inland neigen wir dazu viel negativer unser Land zu bewerten. Aus der Ferne wird einem allerdings wirklich klar: viele Dinge sind in Deutschland wirklich gut geregelt im Vergleich zu anderen Ländern.“
„Was wäre das zum Beispiel?“, frage ich nach.
„Einmal die Krankenversicherung. Man ist es von Deutschland ja gewohnt entweder gesetzlich oder privat abgesichert zu sein, und gute Leistungen bei beiden zu bekommen. In Spanien hat man allerdings in aller Regel die private und die gesetzliche Versicherung.“
„Welchen Vorteil hat das?“
„Wer nur gesetzlich versichert ist, muss oft zwei oder drei Monate auf einen Arzttermin warten. Als Privatpatient kommt man viel schneller dran und bekommt manchmal bessere Leistungen. Wenn man allerdings bestimmte Medikamente braucht, werden diese in der Regel nur von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen. Also geht man einen Mittelweg und nimmt beide.“
Etwas anderes fiel meiner Tante ebenfalls auf:
„Ich war überrascht, wie stark sich die Leute mit ihrer Region identifizieren. In der Uni sagten die Leute nicht, sie seien Spanier: sie waren Katalanen, Basken und so fort!“
In Katalonien, dem wirtschaftlichen Zugpferd Spaniens, flammen die Unabhängigkeitsbestrebungen immer wieder auf. Die Risse gehen teils quer durch Familien.
„Als es hier richtig heftig war vor einigen Jahren war es schon etwas beängstigend. Überall auf der Straße die Polizei. Die Emotionen kochten über. Das erschreckende war, es gab nur schwarz oder weiß. Man war Pro-Katalonien oder ein Verräter – alle grau Schattierungen und Zwischenräume verschwanden.”
Es sei verständlich, dass eine wohlhabende Region wie Katalonien nicht immer für die ärmeren Gebiete in Spanien geradestehen wolle, erklärt meine Tante. Dennoch profitiere auch die katalonische Wirtschaft stark davon, den Anschluss über Spanien in den EU-Binnenmarkt zu haben. Ein Austritt habe viele langwierige Verhandlungen und Handelseinschränkungen zur Folge.
Doch wenn der Stolz angegriffen wird, zählen solch rationale Argumente nicht mehr. Entweder man ist „in-group“ oder „out-group“, und sogar die engsten Familienbeziehungen können betroffen sein. Es geht um das eigene Selbstverständnis, die Identität, die man opfern müsste, um seine Position zu revidieren. Dieser Preis ist normalerweise zu hoch.