Tag 51: Eine Reise durch die katalanische Vergangenheit

  • 11 mins read
  • Published

Heute ist der nächste Tag in einer langen Serie wunderschöner Tage. Gegen neun Uhr gibt es Frühstück, selbstverständlich draußen auf dem Balkon. Ich frage Jordi noch einmal nach seinen Reisen. „Was war denn die längste Reise, die du jemals gemacht hast?“, frage ich. „Einmal war ich 15 Monate am Stück unterwegs“, erzählt Jordi. „Ein Jahr lang habe ich meine Eltern nicht gesehen, bis wir uns schließlich in Los Angeles getroffen haben. Am Flughafen sind sie zunächst an mir vorbeigelaufen! Ich hatte mich so viel verändert, dass meine Eltern mich erst auf dem zweiten Blick erkannten.“

„Sehnt man sich denn nicht auf so einer langen Reise auch mal nach einem zu Hause, wo man längere Zeit einfach bleiben kann?“

„Ja klar, aber nach etwa sechs Monaten passiert etwas ganz Interessantes. Dann fängt man an sich selbst zu vergessen. Jedenfalls ging es mir so. Ich habe gar nicht mehr an mich selbst gedacht, sondern bin voll und ganz in der Reise aufgegangen. Man muss dann auch Reisen, es ist wie eine Sucht.“

Das ist spannend. Wie kann man sich denn diese Selbstvergessenheit erklären?

Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass wir nur schnelle Veränderungen wahrnehmen, während schleichende Prozesse und die Konstanten ausgeblendet werden. Der ständige Wechsel der Umgebung und des persönlichen Umfelds wird natürlich sehr stark wahrgenommen. Ständig verändert sich alles: die einzige Konstante ist man selbst. Und da ist in unserer Natur liegt Konstanten zu kürzen, kann es sein, dass man sich selbst vergisst.

„Natürlich verändert man sich auch selbst. Sogar sehr“, sagt Jordi als ich ihm meine Theorie erzähle. „Nur ist die eigene Evolution oft ein Ablauf im Untergrund und dazu noch schleichend.“

„Welche Reise möchtest du denn unbedingt als nächstes Unternehmen?“, frage ich weiter.

„Ich will unbedingt einmal zum Nordkap fahren. Das fehlt noch in meiner Liste von Touren. Und irgendwann muss natürlich auch der weiße Fleck Südamerika entdeckt werden!“

Jordi erzählt dann von einem Freund, der den Kontinent von Kolumbien bis zum Sudzipfel durchquert hat.

„In den Städten lebt man als Radfahrer gefährlich“, erzählt Jordi. „Deshalb ist mein Freund nur auf abgelegenen Pisten gefahren, in Höhen von bis zu 4500 Meter. Wenn man sich an die Berge hält, ist das Reisen auch in Südamerika sicher. Ansonsten läuft man Gefahr überfahren oder überfallen zu werden.“

„Also so eine Reise würde ich ehrlich gesagt lieber zu zweit machen“, sage ich.

„Ja“, meint Jordi. „In Afrika fand ich es auch sehr gut, mit jemanden unterwegs zu sein, der dort schon einmal mit dem Fahrrad gereist war.“

Man kann viel lernen von anderen Reisenden, und Jordi hat mir schon viele neue Inspirationen gegeben. Nach dem Frühstück gehen wir kurz in Ponts ein paar Dinge für meine Tour einkaufen, dann machen wir noch ein Abschiedsfoto. Dort treffen wir Jaime, ein ehemaliger Touristenführer, der sich als richtiger Alleswisser entpuppt.

Jaime spricht richtig gut deutsch.

„Ich lerne gerade auf das C1 Zertifikat vom Goethe Institut“, erzählt er.

„Seit ich in Rente bin, habe ich viel Zeit mich mit unterschiedlichen Fachgebieten zu beschäftigen.  Mein größtes Hobby ist die Geschichte, insbesondere die Zeit zwischen Mittelalter und industrieller Revolution. Aber ich habe auch etwas Russisch gelernt und interessiere mich für die neuesten Entwicklungen in der Quantenphysik. Aber es gibt natürlich keinen schöneren Weg zu lernen, als zu reisen!“

„Ja“, stimme ich zu, „durch die unterschiedlichen Begegnungen, wird man mit so vielen neuen Themen konfrontiert, auf die man sonst gar nicht gekommen wäre. Man lernt über die Geschichte von unterschiedlichen Orten, muss in einer Fremdsprache reden und erfährt viel darüber, wie Menschen in anderen Ländern leben.“

„Ich habe erst Touristik studiert“, erzählt Jaime. „Später hatte ich ein eigenes Touristenunternehmen. So war ich fast 15 Mal in Deutschland, in Berlin, Hamburg, Dresden und Nürnberg. Jedes Mal habe ich so viel gelernt. Einerseits, weil ich ja meinen Gästen die Geschichte der Orte erklären musste, die wir besuchten. Andererseits haben mir aber auch die Gäste wahnsinnig viel beigebracht, als wir uns unterhalten haben. Man kommt als Tourenführer mit so vielen Menschen in Kontakt, das ist wirklich ein ungemein bereichernder Beruf ist. Man beschäftigt sich auch nicht nur mit einem Themengebiet, sondern man muss sein Wissen aus Geschichte, Wirtschaft, Naturwissenschaften und so fort integrieren.“

„Das fand ich immer schade an der Uni, dass man so in einem Kasten denken gefangen war. Ich finde auch eine generalistische Ausbildung besser, natürlich mit einem bestimmten Schwerpunkt. Wie will man denn wirklich neues Wissen begreifen, wenn man es nicht in das Netzwerk aus unterschiedlichen Fachgebieten einordnen kann? Man muss sich ja nicht nur in der Welt hier draußen orientieren, sondern auch in seinem eigenen Kopf.“

„Das stimmt“, sagt Jaime. „Später habe ich auch noch ein Wirtschaftsstudium gemacht, weil ich das Gefühl hatte zu sehr spezialisiert zu sein mit meinem Tourismusstudium. Aber so sind die Unis eben organisiert: in einer spezialisierten Wirtschaft bildet man spezialisierte Arbeitskräfte aus.“

„Katalonien ist übrigens im Mittelalter ein ganz bedeutender Ort für den Wissensaustausch gewesen. Hier sind die arabische und europäischen Kulturwelten kollidiert. Viele Intellektuelle sind auf Bildungsreisen hierhergekommen, um sich neue Inspirationen zu holen.“

Tatsächlich hat Katalonien eine lange Geschichte: Zunächst lebten die Iberer, ein möglicherweise aus Nordafrika stammendes Volk, in der Gegend des heutigen Kataloniens. Später fiel das Gebiet in den Einflussbereich Kathargos und nach dem Sieg der Römer über Karthago in die Hände des Römischen Reiches. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches fiel Katalonien den Goten (ein Volk das vermutliche seine Ursprünge im Schwarzmeerraum hat, wobei sich die Historiker da uneinig sind) zu, die ein ausführlichen Rechts-Codex etablierten, der bis ins 11. Jahrhundert in einigen nördlichen Provinzen Kataloniens Geltung hatte. Die gotischen Herrscher selbst Unterlagen allerdings schon um 700 n. Chr. einer Invasion der Mauren aus Nordafrika.

Etwa 100 Jahre später kämpfte das Frankenreich gegen die Mauren, und drängte diese aus dem Gebiet Kataloniens zurück. Es entstanden infolge der Auseinandersetzung einige getrennte Grafschaften im Gebiet des heutigen Nordspanien, die dem französischen König unterstanden.

Aus den Grafschaften gingen durch Ehe und Eroberung das Königreich Aragonien hervor und Katalonien, das dem Herzog von Barcelona unterstand. 1137 wird Katalonien, durch eine Ehe, mit dem benachbarten Aragon verschmolzen und es entsteht unter dem Titel „Krone von Aragon“ eines der mächtigsten Reiche im Mittelmeerraum.

Die Krone von Aragon liefert sich einen ständigen Kampf mit den arabischen Mauren im Süden, während es gleichzeitig weiter in den Mittelmeerraum vordringt bis nach Athen.

Wieder durch Heirat, in diesem Fall vom Ferdinand II. (Aragón) und Isabella I. (Kastilien), bekannt als die “Katholischen Könige”, wird das Gebiet der Krone von Aragón 1469 mit dem spanischen Herrschaftsgebiet von Kastilien verschmolzen.

Im Pyrenäenfrieden von 1659 musste Spanien allerdings die katalanischen Gebiete nördlich der Pyrenäen an Frankreich abtreten.

Dabei bleibt Katalonien relativ autonom innerhalb dieses Verbundes.

1700 bis 1713 findet der Spanische Erbfolgekrieg statt, nachdem Karl II. kinderlos verstorben war. In dem Erbfolgekrieg kämpften der Habsburger Erzherzog Karl VI. gegen Philipp V., den Aspiranten des bourbonischen (französisches Adels Geschlecht) Throns.

Katalonien unterstützt dabei den Habsburger Erzherzog Karl. Unglücklicherweise für Katalonien, gewinnt Philipp den Krieg und bestraft dafür Katalonien hart.

Die Eigenständigkeit wird aufgelöst, und die politischen Institutionen abgebaut. Seitdem schwelt in Katalonien der Geist der Unabhängigkeit. 1980 wurde ein Nationalfeiertag in Katalonien ausgerufen in Gedenken an die Kapitulation Barcelonas (und damit Kataloniens) am 11. September 1714 gegenüber Philipp V.

12:30

Jordis Familie hat mich spontan dazu eingeladen, mit ihnen zusammen auf ihrer kleinen Berghütte zu Mittag zu essen. Jordi und ich fahren mit dem Fahrrad in brütender Hitze einen Berg hoch zur Hütte. Früher wurde in der Hütte Stroh gelagert, heute bietet sie einen herrlichen Ort zum Entspannen. Doch erst müssen wir den brutalen Berg erklimmen. Wir machen kurz an einem Aussichtspunkt über einem Stausee halt, wo wir eine Gruppe von Bolivianer treffen, die in Barcelona leben.

In der idyllisch gelegenen Berghütte essen wir gemeinsam über einem offenen Feuer gebratenes Hähnchen, Entrecôte und eine katalanische Spezialität: Blutwurst mit Zwiebel.

Ich komme bei dem Essen ins Gespräch mit Jordis Eltern. Ich frage sie, wie sie die Diktatur unter Franco erlebt haben. Was sie erzählen, ist sehr eindrücklich und deckt sich mit dem Vorgehen anderer Diktaturen um den Globus.

Im spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939, in dem unter anderem Picassos Meisterwerk Guernica Endstand, setzt sich Francisco Franco durch. In einem Versuch Spanien gleich zu schalten, verbietet Franco die katalanische Sprache.

Guernica, Pablo Picasso
Guernica (Pablo Picasso, 1937), Aufnahme 1956 im Stedeljik Museum

Jordis Mutter erzählt: „Von einem Tag auf den nächsten, war es nicht mehr möglich Katalan in der Öffentlichkeit zu sprechen. In den Schulen wurde die Sprache verboten und auch an den Universitäten, wo meine Mutter zu dem Zeitpunkt Studentin war. Franco versuchte mit allen Mitteln die Españolisierung durchzusetzen, und die Kulturen innerhalb Spaniens gleich zu schalten.“

„Aber wir sind das Kämpfen gewöhnt“, sagt Jordis Vater. „Seit 300 Jahren kämpfen wir für unsere Unabhängigkeit gegen größte Widerstände. Wir fordern die Selbstbestimmung. Unsere Kultur ist eigenständig.“

„Die Unabhängigkeit ist aber erstmal vom Tisch“, sagt Jordi. „Nach dem gescheiterten Versuch 2017 haben viele Leute gesehen, dass wir in der EU keine Unterstützung bekommen. Und ohne neue Verträge und Wirtschaftsbeziehungen ist die Unabhängigkeit wohl kaum realisierbar.“

„Merkel war ja auch dagegen“, erzählt Jordis Mutter, die insgesamt positiv über Merkel redet. „Aber Merkel hatte wohl Sorgen, dass andere Regionen in Europa es uns gleich tun würden. Frankreich und Belgien haben mit Korsika bzw. Flandern ja auch sehr eigenständige Gebiete, die mit Sicherheit auch unabhängig sein möchten.“

„Und hier in Spanien hätte man natürlich mit dem Baskenland einen weiteren Kandidaten für Unruhen“, ergänzt Jordis Vater. „Mittlerweile hat sich dort die Lage aber auch beruhigt. Es ist lange nicht mehr so wie zu Zeiten der ETA, die wie in Irland terroristische Anschläge verübt hat. Die haben sich recht gut mit der spanischen Regierung arrangiert und müssen nicht so viele Abgaben abrichten für die landesinterne Umverteilung.“

„Das Problem mit der Regierung in Madrid“, sagt Jordis Mutter, „ist, dass sie Katalonien als Selbstbedienungsladen sieht und wir trotz der hohen Steuern und Abgaben, die wir an Spanien entrichten, wenig davon profitieren. Marode Straßen gibt es hier zuhauf!“

„Wäre denn ein Modell nach dem Baskenland denkbar für Katalonien?“, frage ich nach.

„Es wäre besser als die jetzige Lage“, sagt Jordis Vater, „doch am Ende führt kein Weg an der Unabhängigkeit vorbei. Verstehe uns nicht falsch, wir sind große Freunde Spaniens, Spanier sind unsere Freunde, aber Katalonien ist ein eigenständiges Land.“

„Woran macht man das denn fest?“, bin ich neugierig.

„Wir haben eine eigene Sprache und Geschichte, eigene Sitten und Gebräuche und auch die Mentalität der Einwohner Kataloniens unterscheidet sich zum Beispiel von der in der Extremadura (Region in Südwestspanien)“, erklärt mir Jordis Vater. „Die Arbeitsmoral ist hier eine andere. Nicht ohne Grund ist Katalonien der wirtschaftliche Motor Spaniens. Hier ist nichts mit Siesta.“

Heute allerdings schon. Nach dem köstlichen Mittagsessen legen wir uns in den kühlen Schatten und dösen bis etwa 17 Uhr vor uns hin.

Danach schwingen Jordi und ich uns auf die alten Drahtesel und Jordi begleitet mich 25 km weiter auf meiner Tour in Richtung Tremp. Gegen 21 Uhr, nach 50 km, schlage ich mein Zelt auf einer Wiese neben der Straße auf. Zu der Uhrzeit ist nichts mehr los und am nächsten Morgen möchte ich sowieso vor 8 Uhr los.

Author

Leave a Reply