Tag 52: Internationale Gastfreundschaft

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6:45

Wie geplant stehe ich früh auf. Ich habe gut geschlafen, mit der Ausnahme, dass irgendein großes, schweres Tier mein Zelt recht interessant fand und laut daran herumgeschnuppert hat. Ob es letztlich ein Reh, Wildschwein oder Schaf war, weiß ich nicht. Extra nachschauen wollte ich dann doch nicht.

Je weiter ich ins Inland Spaniens vordringe, desto mehr verändert sich die Vegetation zu einer Art Buschwald. Das Wasser ist hier so knapp, das große Bäume einfach nicht mehr überleben (eine große Buche benötigt an heißen Tagen etwa 600 Liter Wasser pro Tag). Dafür haben neue Arten den Lebensraum für sich erobert.

Unter anderem bieten die schroffen Felsen und karge Landschaft einen idealen Ort für Geier. Davon habe ich heute gleich einige Dutzend gesehen, die teilweise sogar im Tiefflug über mich hinweg gesegelt sind. Die schiere Größe und unfassbare Effizienz im Gleitflug haben eine Ästhetik für sich.

Dabei wurden lange Zeit in Spanien und Europa Geier als Plage gesehen und fast bis zur Ausrottung gejagt und vergiftet.

In Europa gibt es vier Geierarten: der Bartgeier (auch als Lämmergeier bekannt), der Mönchsgeier, der Gänsegeier und der Schmutzgeier. Gänsegeier etwa, sind in ihren jungen Jahren vor der Geschlechtsreife richtige Reisende. Es gibt Exemplare, die von Spanien bis nach Schleswig-Holstein geflogen sind.

Von den vier Arten, konnte ich gestern mit Ausnahme des Schmutzgeier, der kleinsten europäischen Geierarten, alle beobachten. Am häufigsten sind mir Gänsegeier begegnet, während ich den Bartgeier nur hoch oben in den Lüften beobachten konnte. Zum Glück ist er relativ einfach in seinem Flugbild zu erkennen, da die Flügel relativ lang und schmal sind und der Schwanz keine fächerartige, sondern eine rautenähnliche Form hat.

Leider war ich ab etwa 13 Uhr nur noch auf größeren Bundesstraßen unterwegs. Dort hatte man das Gefühl in einem Ofen zu fahren. Der Teer strahlte die Hitze zurück und in den Tälern stand die Luft.

In einem kleinen Dorf namens La Puebla war ich gegen 19 Uhr auf der Suche nach einem Trinkbrunnen. Meine Wasservorräte waren fast verbraucht und für die Weiterfahrt am nächsten Morgen zum nächsten größeren Ort hätte es nicht mehr ausgereicht.

Zwei Frauen kommen mir aus einer Seitenstraße entgegen, also spreche ich sie an, ob sie wüssten, wo ist einen Trinkbrunnen gibt.

„Klar“, sagen sie, „beim Schwimmbad gibt es einen Wasserhahn, den du benutzen kannst. Wir zeigen dir den Weg!“

Während wir spazieren, erzähle ich von meiner Tour. Die beiden Frauen staunen nicht schlecht.

Tatsächlich gibt es am Schwimmbad frisches, kaltes Wasser. Außerdem treffen wir dort bekannte der beiden, die aus Brasilien kommen. Seit 17 Jahren leben sie in Spanien, und sind hier trotz der doch markanten Unterschiede zur Heimat sehr glücklich.

„Das Essen, die Leute, die Mentalität, die Musik und das Klima… das alles ist anders“, erzählen sie mir. Dann erzählt mir die Frau ihren Nachnamen, der sehr deutsch klingt. „Vor drei Generationen kam ein Teil unserer Familie aus Deutschland nach Brasilien“, erzählt mir die Frau. „Sonst ist unser Hintergrund ein ganzes Potpourri aus Deutschland, brasilianischen Ureinwohnern, und portugiesischen Einwanderern.“

Durch die bewegte Kolonialgeschichte sind die lateinamerikanischen Länder tatsächlich zu richtigen Schmelztiegeln geworden. Doch noch immer werden manche Bevölkerungsgruppen als minderwertig angesehen und gesellschaftlich benachteiligt, wie ich später noch erfahre.

„Wir kommen auch aus Südamerika, aber aus Kolumbien“, sagen dann die beiden Frauen, die ich nach Wasser gefragt habe. Sie sind Mutter und Tochter. Seit 23 Jahren lebt Esther, die Mutter, in Spanien. Ihre Tochter Marcela ist vor sieben Jahren nachgekommen.

Esther ist richtig fassungslos, dass ich eine so große Radtour alleine unternehme. Sie wiegt ungläubig den Kopf hin und her und sagt „dafür braucht man Mut, aber wirklich. Was sagen denn deine Eltern dazu? Ich denke, sie brauchen ein starkes Herz.“

„Sie können das ganz gut verkraften, solange ich mich immer mal wieder melde.“

„In Südamerika wäre das nicht möglich“, sagt Esther. „Nicht nur ist es dort sehr gefährlich, sondern die Eltern sind auch sehr, sehr beschützend. Für sie wäre es unmöglich, ihr Kind auf so eine lange, gefährliche und einsame Reise zu lassen.“

„Also einsam ist es meistens nicht, zum Glück!“, sage ich beschwichtigend. „Ich treffe schließlich überall offene und hilfsbereite Menschen, mit denen ich mich nett unterhalten kann. Das ist wirklich das, was das Reisen für mich ausmacht. Ihr seid da ein super Beispiel!“

Spontan fragt mich dann Esther, ob ich bereits eine Übernachtung irgendwo habe.

„Nein, nicht wirklich. Ich bin dabei, einen Platz für das Zelt zu suchen.“

„Wenn du möchtest, kannst du die Nacht auch bei uns verbringen“, schlägt sie vor.

Ein solches Angebot kann ich natürlich nicht ablehnen und so kommt es, dass wir uns von den Brasilianern verabschieden und gemeinsam zur Wohnung laufen. Dort kocht Esther ein leckeres Abendessen aus Kürbissuppe, Wurst und Salat.

Später gehen wir noch einmal durch den Ort spazieren. La Puebla war schon zu Zeiten der Römer eine Siedlung und einige der Gebäude, die heute noch stehen, sind um das Jahr 1000 herum gebaut worden. Im Sommer kommen viele Menschen aus den großen Städten, um an den Dorffesten teilzunehmen. Gerade sind wir aber die einzigen Leute, die unterwegs sind. Auch die Kneipe, wo wir uns kurz hinsetzen, um ein Bier zu trinken, ist leer.

„Tote Hose“, sagt Esther und lacht.

Wieder zu Hause angekommen, möchte ich wissen, warum Esther und Marcela nach Spanien gezogen sind. Marcela erzählt, dass sie in Kolumbien ein Studium als Forstwirten abgeschlossen hat.

„Nach meinem Studium habe ich auf den kolumbianischen Inseln vor Nicaragua gearbeitet. Ich habe dort untersucht, wie sich Flora und Fauna zu unterschiedlichen Jahreszeiten entwickeln. Es war ganz nett, aber wirklich beruflich weiterentwickeln konnte ich mich nicht. Tatsächlich werden in Kolumbien Indios, also die Leute, mit Wurzeln von Ureinwohnern, stark ausgegrenzt und diskriminiert.“

„Ja, da verstehe ich gut, dass man sich einen anderen Ort sucht, um sich beruflich zu verwirklichen. Und wie ist es so mit der Sicherheitslage in Kolumbien?“

„Na ja, der Frieden, für den Präsident Juan Manuel Santos den Friedensnobelpreis bekommen hat, ist brüchig. Es gibt nach wie vor äußerst gefährliche Gegenden, und lokal agierende Milizen. Kolumbien ist ein total gespaltenes Land. Es gibt eine Klasse von Großgrundbesitzern und Neureichen, die in Städten wie Santa Marta lebt. Gleichzeitig gibt es aber viel Armut in den ländlichen Gebieten, und diese Ungleichheit verstärkt natürlich die Gewalt.“

„Also als Radfahrer muss man wohl ziemlich aufpassen in Kolumbien“, sage ich und ergänze: „Obwohl doch viele Größen des Radsports aus dem Land kommen. Egan Bernal, der die Tour de France gewann, und auch Nairo Quintana“

„Wie gesagt, es hängt sehr stark von der Region ab“, meint Marcela. „Ich würde aber eher mit dem Bus reisen. Kolumbien ist ein unglaublich vielfältiges Land. Du hast viele unterschiedliche Stämme von Ureinwohnern, die teilweise noch sehr ursprünglich leben. Ich würde dir empfehlen unbedingt Sierra Nevada de Santa Marta zu besuchen. Das ist eine Bergkette im Norden direkt an der Küste, und das Gebiet von vier unterschiedlichen Ureinwohnerstämmen. Du könntest dort zum Beispiel die Ciudad Perdida besuchen, eine der ältesten Städte des Kontinentes.“

Die Sierra Nevada de Santa Marta gilt als höchstes Küstengebirge der Welt. Dort liegen mit 5775m die zwei höchsten Gipfel Kolumbiens. Lange Zeit wurde das Gebiet von FARC Rebellen kontrolliert, doch seit dem Friedensabkommen von 2016 boomt der Tourismus.

„Dann würde es sich auch auf jeden Fall lohnen, die Küstengebiete von Santa Marta und Cartagena des Indias zu besuchen. Dort wohnen viele reiche Leute. Von dort aus könnte man mit dem Bus ins Landesinnere in Richtung Medellín und Bogotá reisen. Da sieht man sehr schön die Kontraste zwischen den reichen Küstenstädten und dem armen Landesinneren. Und auf der Pazifikseite der Anden ist es wie ein anderes Land. Dort liegen dann die großen Kaffeeanbaugebiete.“

„Spannend, ich würde ja echt gerne mal nach Südamerika. Ich habe einen Freund in Bolivien, den ich mal besuchen möchte. Vielleicht in den nächsten Sommerferien.“

„Was studierst du denn?“, fragt mich Marcela. „Wirtschaft, mit Schwerpunkt auf Schwellenländer. Länder wie Kolumbien also.“

„Ich habe auch zwei Cousins die Wirtschaft studiert haben. Damit kann man sogar in Kolumbien Geld verdienen. Der eine hat in England studiert und der andere an einer privaten Uni in Kolumbien. Ich selbst studiere gerade auch noch mal“, sagt Marcela.

„Wirklich! Was denn?“

„Ich möchte Autorin werden. Ich schreibe schon seit einigen Jahren bei einem Blog mit. Jetzt studiere ich über die spanische Fernuni englische Literatur.“

„Ist eine tolle Sache!“

„Aber Disziplin braucht man. Mein Bruder hat das auch mal probiert, kam aber mit dem vielen eigenständigen Lernen nicht zurecht. Ich liebe was ich tue, und deshalb habe ich damit allerdings keine Probleme.“

Langsam wird es spät, und es fällt mir immer schwerer, aufmerksam zuzuhören.

Schlafen wird mir heute keine Probleme bereiten. Um 23 Uhr ist schließlich Schicht im Schacht. Glücklich über den Zufall zwei wirklich herzensgute, interessante Menschen getroffen zu haben, versinke ich im Reich der Träume.

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