Tag 54: Eine Lektion der Ornithologie und ein mittelalterlicher Schlafplatz

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Ich bin gegen 9 Uhr losgefahren, es verspricht ein heißer Tag mit sehr intensiver Sonne zu werden. Schon um 8 Uhr brennt die Sonne auf der Haut. Gestern Nachmittag fing meine linke Pedale an laute Knackgeräusche zu machen. Ich vermute, dass das Lager dran schuld ist. Öl und Fett half nicht, um das Geräusch zu beseitigen.

Da das ungesunde Geräusch heute immer noch genauso da ist, entschließe ich mich einen Decathlon in der Nähe von Huesca anzusteuern. Dort kaufe ich für 16€ einen Satz Pedalen, der meinen jetzigen relativ ähnlich ist. Noch an Ort und Stelle wechsle ich die Pedale aus. Damit ist nach dem Festziehen des linken Kurbelarms die zweite Reparatur auf der Reise abgeschlossen.

Auf der Weiterfahrt sehe ich auch die vierte und letzte europäische Geierart: den Schmutzgeier. Ein Exemplar fliegt nur wenige Meter über mir hinweg, so dass ich die einzelnen Federn an der Brust schon gut erkennen kann.

Entgegen seinem Namen, der einen dunklen schmuddeligen Vogel suggeriert, ist der Schmutzgeier größtenteils weiß – mit Ausnahme der Schwungfedern, die schwarz sind. Er ist die kleinste europäische Geierart, mit einer Flügelspannweite von nur etwa 1,50m bis 1,70m. Zum Vergleich, die großen Geierarten haben alle Flügelspannweiten zwischen 2,20m und 2,90m.

Weiter geht es auf Schotterpisten, 20km Bundesstraße (heiß und ätzend), und die letzten zwei Stunden auf entlegenen Seitenstraßen in einem Naturschutzgebiet (herrlich). Zum Sonnenuntergang erreiche ich das kleine mittelalterliche Dorf Biel. In seiner Mitte thront ein 30m hoher Burgturm aus dem Jahr 1100. Auf meinem Weg dorthin treffe ich einen älteren Herren, der mir die übliche Frage stellt: „Woher kommst du?“

So kommen wir ins Gespräch und der Mann erzählt mir, dass auch er gerne Fahrrad fährt. Im Winter gerne auf den Kanaren.

„Aber am liebsten mache ich Wanderungen und beobachte Vögel. Ornithologie heißt das. Neulich habe ich ein gutes deutsches Fernglas gekauft, von Leica.“

Er möchte mir die Vögel am Burgturm zeigen. Kreuz und quer sausen die Akrobaten der Lüfte.

„Das sind Mehlschwalben“, sagt der Mann. „Die überwintern auch in Afrika, manche fliegen sogar bis Südafrika.“

Die kleinen Vögel sind sehr wendig, und haben einen charakteristischen weißen Bauch. Ihre Bruthöhlen bestehen aus kleinen Lehmklumpen, die zusammengeflickt sind.

„Da! Das sind die Alpenkrähen, die hier nisten. Die kennen mich schon gut, sie sind extrem intelligent“, ruft der Mann, als einer der schwarzen Vögel mit rotem Schnabel angeflogen kommt.

Ich erzähle dem Mann, wie ich mich gefreut habe, in den letzten Tagen Geier beobachten zu können.

„Ja, hier gibt es eine unglaubliche Vogelvielfalt. Unter anderem leben alle in Europa vorkommenden Geierarten hier.“

„Heute habe ich einen Schmutzgeier gesehen“, erzähle ich.

„Ja, du bist zur richtigen Jahreszeit hier. Im Winter bis etwa März sind die Schmutzgeier in Afrika.“

„In Marokko?“, frage ich.

„Nein, nein, die legen eine viel größere Strecke zurück. Meistens sind sie in Westafrika, Senegal und so. Schmutzgeier ernähren sich übrigens nur von Innereien, den Augen und anderen Weichteilen. Sie sind auch koprophag, im Gegensatz zu den anderen drei Geierarten. Das heißt, dass sie auch Kot fressen.“

„Aber es gibt auch noch andere Greifvögel. Milane, Bussarde und Adler. Heute habe ich auf meiner Tour einen Steinadler beobachtet! Der ‚Águila Real‘ ist ziemlich selten – es gibt nur etwa 3000 Vögel in ganz Spanien“, erzählt der Mann sichtlich begeistert.

„Klasse!“, ich bin beeindruckt.

Adler haben eine besondere Ausstrahlung, die sie zum zweithäufigsten Motiv der Heraldik (Wappenkunde) machen, nach dem Löwen.

Schon im altpersischen Reich der Achämeniden, das zwischen 600 und 330 v.Chr. bestand, war der Adler das Symbol der Könige.

Der Sage nach wurde der Stammesvater der Achämeniden von einem Adler großgezogen. Interessanterweise war im alten Ägypten kein Adler, sondern ein Geier Symbol der Pharaonen. Geier sind allerdings in der sonstigen Heraldik sehr selten.

Alexander der Große, der das Achämenidenreich eroberte, führte den Adler als königliches Wappenzeichen ein und prägte ihn auf seine Münzen.  Im römischen Reich ist die Standarte des Heeres (Die Aquila, bekannt aus Asterix und Obelix) ein Adler. Ebenso steht der Adler für das Imperium. In der römischen Traumdeutung ist das Erscheinen eines Adlers mit Macht, Reichtum und Erfolg verbunden. Kurz gesagt: Mit gesellschaftlichem Auftrieb.

Doch Adler werden auch mit dem Göttlichen gleichgesetzt. Der Adler gilt als Symbol für Jupiter bei den Römern, Zeus bei den Griechen und Odin bei den Germanen. Bei der Einäscherung der römischen Kaiser ließ man einen Adler in den Himmel steigen, auf Kunstwerken werden verstorbene Herrscher auf Adlern reitend dargestellt.

Auch das Christentum bedient sich der Symbolik des Adlers, wo er das Symbol des Evangelisten Johannes ist und die Himmelfahrt repräsentiert.

Adler werden also mit dem überirdischen, der Transzendenz des Irdischen, in Verbindung gebracht.

Der Adler in der Heraldik verkörpert somit nicht nur die Herrscherattribute der Macht, Gerechtigkeit oder Scharfsicht, sondern gleichermaßen Göttlichkeit und Unsterblichkeit.

Zurück zu weltlicheren Dingen.

„Der Águila real erbeutet Hasen, Lämmer und sogar Füchse“, erzählt der Mann weiter.

„Aber es gibt auch noch zwei weitere Adlerarten, die in Spanien vorkommen. Der Kaiseradler und der Zwergadler“, ergänzt der Mann.

Dann möchte er mir einen Ort am Burgturm zeigen, wo ich schlafen kann.

Als wir schließlich vor der Tür zur nebenan liegenden Kirche stehen, sagt der Mann, „hier kannst du gut die Nacht verbringen. Es wird dich keiner stören.“

Ich zögere zuerst. Auf den Gedanken, vor einer Kirchentür einfach im Freien zu schlafen, bin ich noch nicht gekommen. Andererseits beschwichtigt mich der Mann: „hier ist nichts los, und das haben auch schon in der Vergangenheit andere Radreisende gemacht.“

Alles klar. Dann probiere ich mal eine neue Form des Übernachtens aus! Die ebenen Steine sind vom warmen Tag vorgeheizt, und werden mir eine bequeme Nacht bescheren. Nur die Mehlschwalben, die in der Decke über mir nisten, bereiten mir Sorgen. Schließlich habe ich keine Lust, nachts mit offenem Mund schnarchend, eine Geschmacksprobe besonderer Art zu bekommen…

Aber Probleme gibt es nicht, nur Lösungen!

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