Ich habe geschlafen wie ein Stein. Als ich aufwache und auf die Uhr schaue, stelle ich erstaunt fest, dass es schon 9 Uhr ist. Normalerweise wache ich immer gegen 6:30 bis 7 Uhr auf. Offenbar habe ich zwei Stunden extra Schlaf benötigt, um das ganze gute Essen vom Grillen zu verdauen.
Um 10 Uhr fahre ich los, immer leicht bergauf. Ich kaufe im nächsten größeren Ort ein, Brot, Obst, Käse und Knabbersachen. Dann bin ich bereit für den höchsten Berg der bisherigen Tour. Bis auf knapp 2000 m führt mich die Straße hinauf.
Die Steigung steigert sich langsam, von vier bis fünf Prozent bis hin zu Rampen von 10 bis 15%. Mit Temperaturen zwischen 15 und 20 Grad ist es allerdings sehr angenehm zu fahren und mir kommt die Fahrt den Berg hoch gar nicht so schwierig vor. Die Spitzen der Berge sind alle in den Wolken, und etwa zusammen mit der Baumgrenze verschwinde auch ich in den weißen Schwaden.
Ich muss zum ersten Mal seit drei Wochen meine Jacke anziehen, denn mit dem Wind und der feuchten Luft ist es ziemlich frisch. Auf der Höhe folge ich den Camino de St Lorenzo, eine Schotterpiste, die mich am Kamm etwa 10 km entlangführt. Dann stürze ich mich in die Abfahrt, ebenfalls auf Schotterwegen.
Ich kann mit Recht behaupten, dass diese Abfahrt zu den besten drei der bisherigen Tour gehört. Ich hinterlasse die karge, steinige Heidelandschaft der Gipfel, und rausche hinab durch Wälder von kleinen, windgeformten Nadelbäumen. Schließlich machen die Nadelbäume Platz für mitteleuropäisch anmutende Buchenwälder. Wahnsinn! Die Geschwindigkeit ist mein Freund, denn wer langsam fährt merkt jeden Stein, versinkt im Schotter und rutscht weg. Nach 50 km mache ich meinen ersten Halt auf einem kinderleeren Spielplatz mit Sitzecke. Auf der Packung vom Käse, den ich esse, fällt mir auf, dass er als glutenfrei gekennzeichnet ist. Weil ich nicht genau weiß, was Gluten ist, entscheide ich mich mal nachzuschlagen.
Es kommt heraus, dass Gluten das Klebeeiweiß in Getreide ist. Beim Weizen macht es etwa 10% der Masse aus. Gluten sorgt dafür, dass ein Teig elastisch und gummiartig wird, sodass Luftblasen darin gehalten werden können und der Teig aufgehen kann.
Eine Glutenunverträglichkeit nennt man Zöliakie. Schätzungsweise 0,5 bis 1 % der Bevölkerung sind betroffen, mit Symptomen die sich als Durchfall, Darmreizbarkeit, Schlappheit oder Erbrechen äußern. Dabei handelt es sich nicht um eine Allergie, sondern um eine Autoimmunerkrankung, wo das Immunsystem aufgrund des Konsums von Gluten den eigenen Dünndarm angreift und damit zu einer chronischen Entzündung führt. Das Gewebe im Dünndarm wird zerstört, wodurch wichtige Nährstoffe nicht mehr in ausreichender Menge aufgenommen werden. Vor allem bei Kindern entstehen infolgedessen Wachstums- und Entwicklungsstörungen.
Zwar waren die Symptome der Zöliakie schon seit Jahrhunderten bekannt, doch tappte die Forschung bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Dunkeln. Erst als Forscher sahen, dass sich in den Kriegsjahren bei vielen Menschen die Symptome verbesserten, wenn Brot knapp war und damit weniger Gluten verzehrt wurde, kam man auf das Gluten als Auslöser. Bis heute ist der Verzicht auf Gluten die einzige anerkannte Behandlungsmethode für eine Zöliakie.
Auch eine meiner Gastgeberinnen war von einer Zöliakie betroffen, und hat mir von den vielen Produkten berichtet, auf die sie verzichten muss. Letztlich sind dies nicht nur Brot und Getreide, sondern alle Produkte die Getreidebestandteile enthalten. Schon kleinste Mengen Gluten können die Autoimmunreaktion wieder auslösen, mit all ihren schädigenden Auswirkungen.
Eines der prominentesten Opfer einer Zöliakie ist das Lübecker Kindergenie Christian Henrich Heineken, der mit einem Jahr fließend sprechen konnte, mit zwei Jahren bereits Latein und Französisch beherrschte und mit drei Jahren eine Geschichte Dänemarks verfasste. Mit dieser Leistung beeindruckte Christian Heineken den König von Dänemark so sehr, dass dieser ihn als ‚miraculum‘ bezeichnete. Lieder und Gedichte wurden ihm zu Ehren verfasst und sogar der große Philosoph Immanuel Kant wurde auf Christian Heineken aufmerksam. Doch schon im vierten Lebensjahr (1725) starb Christian Heineken, vermutlich an einer unerkannten Glutenunverträglichkeit. Mit dem Wechsel von der Stillzeit zur konventionellen, getreidehaltigen Nahrung verschlechterte sich Christian Heinekens Zustand rapide, was Forscher vermuten lässt, dass er letztlich einer Zöliakie erlag.
Doch damit genug über Gluten, medizingeschichtliches und Wunderkinder von „ephemerischer Existenz“ (Kant).
Ich setze meine Radtour auf einer der sogenannten Via Verde, meist geschotterte Wege auf alten Eisenbahntrassen, fort. Die Via Verde führt mich 52 km durch den Nationalpark, bis etwa 20 km vor Burgos. Der Boden ist extrem steinig, doch es wird spät und irgendwo muss ich mein Zelt aufstellen. Mir fehlen noch 30 km bis Burgas, als ich mich entscheide Halt zu machen für die Nacht. Mit viel fluchen schaffe ich es die Heringe irgendwie notdürftig in den Boden zu pressen. Ich hoffe, dass es nicht zu windig wird und mir das Zelt wegfliegt.
Kalt ist es auf jeden Fall, hier auf 1200 m über Meeresspiegel. Doch bei Kälte schlafe ich in der Regel besonders gut!