Tag 63: Eine Begegnung unterschiedlicher Lebensentwürfe

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Ich habe auf einer abgeschiedenen Wiese die Nacht verbracht. Dort konnte ich ungestört bis 9 Uhr frühs ausschlafen. Um 10 Uhr bin ich wieder auf der Strecke und fahre in Richtung Ponferrada. Dort steht die letzte erhaltene Burg der Tempelritter, die mir Ivan vor zwei Tagen sehr empfohlen hat.

Auf einem langen, geraden Stück treffe ich Michael, der mit dem Fahrrad aus Brüssel gekommen ist.

„Eigentlich komme ich aber aus Schleswig-Holstein“, erzählt er. „Wo kommst du her?“, fragt er mich.

„Ich bin mit dem Fahrrad in Münster losgefahren.“

„Münster kenne ich gut“, sagt Michael. „Das liegt immer auf halber Strecke, etwa zwischen Brüssel und meiner Heimat.“

„Tja, und ich habe in Maastricht studiert, aber tatsächlich habe ich in drei Jahren nie Brüssel besucht, und das obwohl es ja nicht so weit entfernt ist.“

„Meine Tochter hat auch in Maastricht studiert“, erzählt Michael. „Business and Economics.“

Ich hätte es mir fast denken können. Eigentlich studiert fast jeder Deutsche in Maastricht entweder Wirtschaft oder Psychologie.

„Ich auch“, erzähle ich.

„Wann warst du dort?“, fragt Michael.

„Von 2018 bis 2021“.

„Ah, das ist ein bisschen später als meine Tochter, die hat 2019 abgeschlossen. Wie geht’s für dich nach der Reise weiter?“

„Ich möchte noch meinen Master machen und habe mich da an ein paar unterschiedlichen Unis beworben. In Holland z.B. in Rotterdam, aber auch in Kopenhagen.“

„Meine Tochter hat ihren Master auch in Rotterdam gemacht, sie hat übrigens auch ein Gap Year gemacht. Aber sie hat zwei Praktika in der Zeit absolviert und war nicht reisen.“

„Das eine oder das andere, für beides reicht ein Jahr nicht!“ sage ich.

„Mein jüngster Sohn fängt jetzt auch an in Maastricht zu studieren, der andere ist in Paris“, sagt Michael weiter.

So ist das „normale“ Leben. Schule, Studium, Praktika und arbeiten, um eine Familie zu ernähren. Wenn ich in Rotterdam studieren würde, hätte ich tatsächlich genau den gleichen Lebenslauf wie einige hundert andere Leute. Allein, dass ich hier auf dem Weg zufälligerweise jemanden treffe, dessen Tochter es genauso gemacht hat, sagt schon einiges aus.

Wir wechseln das Thema. Michael erzählt mir, wie er gestern in der Herberge eine Kanadierin getroffen hat, die sehr verwundert war, wie gut er und ein Reisender aus Dänemark Englisch sprechen konnten. „Sie hat allen Ernstes gefragt, ob Englisch in Dänemark und Belgien die Amtssprache sei“, erzählt Michael. „Also die Ignoranz von manchen Menschen ist wirklich unfassbar. Vor allem von so manchen Amerikanern!“

Es stimmt, dass man in Amerika nicht viel über Europa lernt. Der Geschichtsunterricht ist sehr amerikazentrisch, ähnlich wie man hier in der Schule mehr über Europa lernt. Vielleicht weiß man in Amerika im Schnitt weniger über Europa als andersherum. Aber im gleichen Atemzug, wo man Ignoranz erwähnt, sollte man auch sagen, dass es viele Amerikaner gibt mit einer tiefen Faszination für, und Kenntnis über, die Geschichte und Kultur der europäischen Länder. Ich muss etwa an amerikanische Freunde denken, die regelmäßig Ahnenforschung in Europa machen.

Ich fahre 10 km zusammen mit Michael, dann trennen sich unsere Wege. Kurze Zeit später spreche ich eine andere Radreisende an, die etwa mein Alter sein müsste. Sie fährt mit einer leuchtend gelben Warnweste. Woher sie komme, frage ich, und ich kann mir die Antwort schon fast denken.

„Aus den USA“, erzählt sie. „Machst du den ganzen Camino?“, frage ich. „Nein, ich bin mit der Uni hier und wir fahren vier Tage mit dem Fahrrad einen Abschnitt.“

„Warum machst du den Camino?“, fragt sie mich und schaut mich erwartungsvoll an. Ich grinse und sage im vollen Bewusstsein, eine für sie sehr enttäuschende Antwort zu geben: „Um von A nach B zu kommen.“ Die Frage nach dem „Warum?“ wird übrigens selten am Anfang einer Unterhaltung gestellt wird. Das liegt daran, dass Leute oft sehr persönliche und vielfältige Gründe hierfür haben. Aber dies trifft auf mich hier nicht zu.

Ich beobachte, wie ihr erwartungsvolles Gesicht in eine Art Ernüchterung umschwenkt. Ich glaube, sie hat eine lange Geschichte über Selbstfindung und Spiritualität erwartet. Vielleicht muss sie später für die Uni einen Bericht verfassen, aus welchen Motiven hinaus Menschen den Jakobsweg machen. Meine Antwort war da offensichtlich nicht so ergiebig wie erhofft. Ich erkläre aber daraufhin meine Reise und damit hat die Amerikanerin doch noch etwas Stoff zum Erzählen. So sind am Ende doch alle glücklich, und sie hat vielleicht sogar etwas über das Miteinander auf dem Jakobsweg erfahren.

Ich wünsche noch einen schönen Tag auf dem Camino und fahre weiter.

Als ich einige Kilometer später an einem Wegmarker vorbeifahre, meine ich, statt einer Jakobsmuschel, einen Indianerkopfschmuck zu sehen. Halluziniere ich etwa?

Nein, so heiß ist es nicht und unter Flüssigkeitsmangel leide ich auch nicht. Aber wenn man mit den Gedanken umherschweift und nur peripher die Umgebung wahrnimmt, versucht das Gehirn aus bruchstückchenhaft wahrgenommenen Dingen ein sinnhaftes Ganzes zu schaffen. „Amerika + Jakobsmuschel = Indianerkopfschmuck“ kombiniert da unbewusst das Gehirn.

Vielleicht hat die Vorstellung vom Kopfschmuck auch etwas mit der knalligen Sonne zu tun. Sozusagen der unterbewusste Wunsch unter einem schattigen Federmantel Schutz zu finden. Einige der Pilger, an denen ich vorbei fahre gleichen einem Lobster. An ihren Armen schält sich schon die Haut ab. Seit etwa 100 Jahren gibt es Sonnencreme. Warum sind manche Menschen immer noch zu stur sie zu benutzen?

Die nächste Begegnung des Tages mache ich am Nachmittag. Ich hole ein Tandem-Fahrrad ein, auf dem Bert und Welmoed, zwei Rentner aus den Niederlanden radeln.

Ich habe ein solches Fahrrad noch nie gesehen. Vorne sitzt Welmoed in einer Art Liegesessel und tritt, während Bert auf einem normalen Fahrradsattel strampelt und das Fahrrad lenkt, die Bremsen bedient und schaltet. “Ich bin der Motor“, sagt Welmoed. „Und ich der Kapitän“, vervollständigt Bert.

Die beiden sind seit fünf Wochen unterwegs, und sind nahe Rotterdam losgefahren. „Ist das anstrengender im Tandem als auf einem normalen Fahrrad?“, frage ich.

„Nein, nein, ganz und gar nicht. Wir haben leicht gepackt und sind ein eingespieltes Team“

„Nach 45 Jahren kennen wir uns halt ganz gut“, zwinkert Bert.

„Aber nicht alles, Geheimnisse sind sehr wichtig. So bleibt man füreinander interessant“, fügt Welmoed schelmisch hinzu.

So habe ich wieder eine Weisheit gelernt!

„Wie alt bist du?“, will Bert wissen. „21“, antworte ich.

„Wir haben einen Cousin, der mit 22 von Europa nach Hongkong gefahren ist mit dem Fahrrad. 2019 ist er in Süd-Patagonien gestartet und nach Norden durch Südamerika gefahren. Dann kam aber Corona und er ist in Mexiko stecken geblieben. Dort ist er immer noch.“

„Und er kann von dort aus arbeiten?“, frage ich. „Ja, er verdient sein Geld mit Blogs und Büchern. Außerdem testet er neue Produkte für Radreisen.“

„Super, an sowas haben Leute immer Interesse“

„Ja, das ist noch eine richtige Nische im Tourismusmarkt“, sagt Welmoed, „Und während der Isolation in der Pandemie hat sich das Fernweh nur gesteigert. Da lesen die Leute gerne von Abenteurern. Auch wenn sie selbst nie den Mut aufbringen, so etwas zu machen, haben sie trotzdem das Gefühl dabei zu sein und ein bisschen die Reise mitzuerleben!“

Diese Geschichte ist der polare Kontrast zu der Unterhaltung heute Morgen mit Michael. Ich weiß, welcher Entwurf mir interessanter erscheint.

Während Bert und Welmoed noch vor dem höchsten Punkt das Caminos (Cruz de Ferro, 1504m) übernachten möchten, will ich den Berg noch heute überwinden. Bert und Welmoed verabschieden sich von mir und gehen ein kaltes Bier trinken. Ich schwitze währenddessen am Berg. Oben auf 1500 m angekommen esse ich eine Tortilla und trinke eine Cola. Ab und zu darf man sich auch was gönnen! Am Gipfel steht ein Kreuz auf einem Steinhaufen.

Der Legende nach haben Pilger die ganzen Steine mitgebracht und dort abgelegt auf ihrem Weg nach Santiago. Früher war es üblich nach Santiago zu laufen und einen Stein abzulegen, um ihn beim Rückweg wieder mitzunehmen. Doch nicht jeder Stein wurde wieder mitgenommen und so sammelte sich über die Jahrhunderte ein ziemlicher Berg an.

Die Abfahrt beginne ich zunächst auf dem Wanderweg, der mich wirklich an die Grenze meiner Fahrtechnik bringt. Nach einigen Kilometern wechsele ich auf die Straße, die in steilen Spitzkehren hinab ins Tal führt. 10 km vor Ponferrada kehre ich in einer Herberge ein, wo ich für 10€ die Nacht verbringen kann.

Um ein Abendessen zu ergattern bin ich zu spät, aber der örtliche Supermarkt hat noch offen und dort kaufe ich mir einen fertigen Salat. Grünzeug ist das, was am kürzesten kommt auf einer Radtour. Gleichzeitig ist es meinem Empfinden nach aber eines der wichtigsten Dinge für eine schnelle Erholung. In den grünen Blättern stecken irgendwelche Stoffe, die mein Körper offenbar nach sportlichen Strapazen nötig hat!

Gegen 21 Uhr genieße ich meinen Salat im Kleingarten der Herberge. Ein großer hagerer Belgier gesellt sich zu mir. Es stellt sich heraus, dass er von Montpellier bis nach Santiago de Compostela wandert.

„Jetzt, wo ich im Ruhestand bin, kann ich das machen“, erzählt er mir.

„Ist es ihre erste große Wanderung?“, frage ich.

„Ja, vorher war ich noch nie so lange unterwegs. Aber es ist schön. Wandern ist leicht. Viel leichter als die Arbeit.“

„Was haben Sie denn gemacht im Berufsleben?“, frage ich.

„Ich war Richter, mit dem Spezialgebiet Jugendkriminalität. Man wird begleitet durch die Sorge einen Fehler zu machen und die Verantwortung zu haben für die Bahn, die ein junges Leben nimmt. Deshalb sagte ich eben, dass Wandern richtig einfach ist.“

„Ja, es gibt so gut wie keine mentale Anstrengung“, erzähle ich.

„Und an die körperliche Belastung passt sich der Körper an“, fügt der Belgier hinzu. Wir reden auf Englisch und er entschuldigt sich für sein häufiges Ringen nach den richtigen Worten.

„Wenn ich müde bin, wird mein Englisch ‚terrible‘“, sagt er.

Als der Mann erfährt, dass ich aus Deutschland bin, erzählt er mir von der deutschen Minderheit und ihrer Geschichte in Belgien. „Es gibt in Belgien drei Sprachregionen, die jeweils ihre eigene Regierung und Verwaltung haben“, erklärt er mir.

„Das reiche Flandern mit etwa 6 Millionen Einwohnern, die ärmere Wallonie mit 4 Millionen Einwohnern und eine kleine deutsche Minderheit, die etwa 70.000 Menschen ausmacht. Auch die haben ihre eigenen Verwaltungs- und Politik-Institutionen.“

„Ja, ich bin sogar schon einmal durch das deutschsprachige Belgien gefahren, als ich in der Eifel unterwegs war. Das ist nicht so weit von meinem Studienort Maastricht entfernt gewesen. Wissen Sie denn warum dort deutsch gesprochen wird?“

„Meiner Kenntnis nach gehörte das Gebiet einst zu Deutschland, wurde aber nach dem Krieg Belgien zugeordnet. Es gab dort ein Referendum, ob das Gebiet wieder Deutschland beitreten soll, was die Bevölkerung mit großer Mehrheit bejahte. Allerdings hat die belgische Zentralregierung das Ergebnis ignoriert, so dass die kleine deutsche Minderheit nach wie vor zu Belgien gehört.“

„Interessant“, sage ich.

„Der größere Riss geht aber in Belgien zwischen Flandern und der Wallonie durchs Land. Die Wallonie ist sehr Französisch geprägt, während Flandern einen sehr starken Arbeitsethos hat und eher nach deutschem Vorbild agiert. Effizient und zielstrebig.“

„Man sagt, der Franzose mag Visionen, während der Deutsche zu Pragmatismus neigt. In Deutschland erledigt man die Dinge, statt sich in großen Träumereien zu verlieren.“

„Ich glaube Helmut Schmidt hat einmal gesagt, dass Visionen für verrückte sind“, sage ich. „Du hast schon recht mit der Aussage, dass die Deutschen Pragmatismus mögen!“

„Die Verwaltung ist auch viel effizienter. Wir haben großen Respekt vor Deutschland in Belgien, euer Land ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild – auch was die Politik anbelangt. Sehr stabil, Merkel hat es gut gemanagt.“

„Du bemerkst: Ich rede zwar französisch, aber ich denke deutsch“, schmunzelt der Mann.

„Ich verstehe!“

„Große Wissenschaftler und Philosophen habt ihr auch. In meinem Studium habe ich mich mit deutscher Philosophie beschäftigt, Hegel, Kant und Fichte. Aber schwierig zu durchdringen, vor allem Hegel. Ich finde es wirklich bemerkenswert, was für Persönlichkeiten Deutschland alles hervorgebracht hat.“

Es ist wirklich interessant, wie hoch Deutschland angesehen wird. Das zeigt aber auch: wir haben einen Ruf zu verlieren! 

Ich merke an, dass viele Deutsche gerne meckern über die Zustände im Land und in der Politik.

„Die sollten mal nach Belgien kommen“ antwortet der Mann ganz trocken. „Glaub mir, ihr macht das wirklich gut!“

Ich liebe es, die Perspektiven aus anderen Ländern und von anderen Leuten zu erfahren. Erst dadurch entsteht ein Maßstab, den man anlegen kann, um Dinge zu beurteilen.

„Mein Sohn war übrigens nach dem Studium ein Jahr in Südamerika mit dem Fahrrad unterwegs, zusammen mit seiner Freundin, die jetzt seine Frau ist“, erzählt mir dann der Mann.

„Als er zurück kam hatte er auch gar keine Probleme Arbeit zu finden. Im Gegenteil, die Arbeitgeber haben es sehr zu schätzen gewusst, dass er selbstständig eine solche Reise geplant und unternommen hat.“

Ich denke auch, dass sowas honoriert wird. Es zeugt von Stehvermögen und Resilienz, und einer gewissen Unkonventionalität.“

„Mein Sohn hat es ein ganzes Jahr durchgezogen und hat es geliebt. Aber jetzt nach zwei Monaten, ich vermisse schon meine Frau und Familie. Es wird Zeit, wieder nach Hause zu kehren.“

„Es ist doch schön, wenn zu Hause jemand auf einen wartet“, sage ich, und der Mann stimmt mir zu. Ich muss an eine Geschichte denken, die ich gestern gehört habe.

Die Geschichte von einem Holländer, der im Februar losgelaufen war und auf unbefristete Zeit weiterwandern möchte. Auf die Frage „Warum?“, gab er die Antwort, dass zuhause nur die Couch seiner Mutter auf ihn wartet. Das scheint mir ziemlich traurig, oder hat einfach einen besonderen Humor. Die Unterhaltung war ein Spiegelbild derer, die ich heute mit der Amerikanerin hatte. Nur waren die Rollen getauscht. Daran bemerkt man eben, dass man Neuling auf dem Camino ist.

Da finde ich es viel schöner, wenn man zu Hause vermisst und sich auch auf ein Wiedersehen mit der Familie freut. Wie der Belgier – und ich auch!

In diesem Sinne, viele Grüße aus der Herberge und gute Nacht!

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