Tag 65: Zukunftsgespräche und ein Fußballfinale

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Je weiter ich nach Süden vordringe, desto mehr Menschen haben eigene Gemüsegärten und halten Hahn und Henne. So kommt es, dass schon um 6 Uhr ein Hahn laut kräht und einen weiteren schönen Tag einläutet. Es weht eine leichte Brise, doch sie ist nicht dafür verantwortlich, dass neue Entscheidungen in mein Zelt flattern.

Diese Entscheidungen betreffen das zukünftige Studium, und sind per E-Mail gekommen. Es gibt wieder Druck in meinem ansonsten meist drucklosen Reisealltag. Ich muss meine Möglichkeiten abwägen. Doch erstmal ist das Frühstück wichtiger.

Um 9 Uhr kommt der Mann, mit dem ich gestern gesprochen hatte wie abgemacht mit Kaffee und Keksen vorbei. Vom Aussehen erinnert er mich ein bisschen an Jan Josef Liefers. Seine Augen strahlen Witz und Humor aus.

„Hast du gut geschlafen?“, fragt er mich.

„Wie ein Stein!“

„Na wunderbar! Wo geht’s heute hin?“

„Ich weiß es nicht genau, ich schaue einfach, wo ich lande. Aber die grobe Richtung ist nach Viana do Bolo.“

„Also in Richtung Portugal, sehr schön! Habe ich auch schon alles mit dem Motorrad gemacht. Übrigens, ich heiße Paul.“

Dann erzählt mir Paul, warum er gerade in Spanien ist.

„Normalerweise arbeite ich in Belgien im Management einer Gasfirma, aber mein Vater ist schwer krank und liegt im Krankenhaus. Wie viele Spanier, ist mein Vater damals mit 16 nach Belgien gekommen, um zu arbeiten. Im Ruhestand ist er zurück in sein Heimatdorf gekehrt.“

Paul deutet auf das Haus hinter ihm. „Das ist unser Familiensitz“, erzählt er. „Als mein Vater so krank wurde, habe ich der Firma gesagt, dass ich nach Spanien gehe, um in den letzten Wochen bei ihm zu sein. Das fanden die erstmal nicht so gut. Ich habe auch gesagt, dass ich so lange bleibe, wie es braucht, Ende offen. Das mussten die erstmal in den Kopf kriegen. Aber man hat schließlich nur einmal seinen Vater.“

Paul hat recht. Es ist unmöglich, einen zweiten Vater zu bekommen. Aber Arbeit zu finden ist immer möglich.

„Ich bin in Belgien geboren“, erzählt Paul. „Aber in meiner Kindheit war ich sehr oft hier. Da waren die Dörfer noch reicher. Jetzt, seit etwa 30 Jahren, sind sie aber so gut wie leer, nur noch alte Bewohner sind hier. Die Jugend ist in die Städte gewandert.“

„Das ist überall das gleiche Bild, in Frankreich war es ähnlich“, sage ich.

„Hast du die großen Schutthalden auf den Bergen gesehen?“, fragt mich Paul.

„Ja, ich habe mich schon gewundert, woher die stammen. Offensichtlich vom Bergbau, aber was gibt es hier denn was abgebaut wird?“

Paul dreht sich um und deutet auf die Dächer. „Schiefer. Das ist auch so gut wie die einzige Arbeit, die hier noch ist. Der Großteil der Gebliebenen arbeitet in den Bergwerken. Das ist harte Arbeit, schwere Arbeit, nicht gut für die Gesundheit. Klar, dass das die jungen Leute nicht mehr machen wollen.“

„Ja, würde ich auch nicht“, stimme ich zu. „Da bevorzuge ich das Reisen!“

„Ja, das Reisen ist eine wunderbare Sache. Menschen sind gegenüber Reisenden generell sehr offen. Ich beneide dich wirklich sehr. Weißt du, es gibt zwei Phasen im Leben, wo man so etwas gut machen kann. Bevor man anfängt zu arbeiten, und nachdem man aufhört zu arbeiten, im Ruhestand. Dann weiß man allerdings nicht mehr, ob das mit der Gesundheit noch so gut klappt. Zwischendrin hat man Familie und Beruf, die einen beschäftigt halten.“

„Ja, so ist das“, gebe ich Paul Recht. „Alle Reisenden, die ich getroffen habe, die neben der Arbeit richtig verrückte Abenteuer gemacht haben, waren nur für sich und mussten keine Familie versorgen. Sie haben auch Berufe gemacht, wo man auch mal ein halbes oder ein ganzes Jahr aussetzen kann.“

„Man braucht ja auch nicht viel Geld“, sagt Paul. „Ich meine, wie viel brauchst du denn?“

„Nicht viel, ich brauche um die 15 € am Tag für Essen. Das war’s. Übernachten kostet mich nichts und die gelegentliche Fahrradreparatur fällt auch nicht so stark ins Gewicht. Alles in allem würde ich sagen, konservativ gerechnet, kommt man mit 600 € im Monat als Radreisender gut durchs Leben. Ich bin allerdings noch deutlich günstiger unterwegs, da ich oft die Gastfreundschaft von Familie, Freunden und Fremden nutzen konnte.“

„Eben“, sagt Paul. „Man ist ja auch interessant für die Leute. Die Währung des Reisenden sind Geschichten, nicht Geld. Ich habe einen Freund, der reist mit dem Motorrad – ein sehr altes Motorrad, er hat so oft mechanische Probleme, aber egal. Er hat eine Gitarre im Gepäck, die er zusammenklappen kann. Abends stellt er sich dann immer auf einen öffentlichen Platz, und spielt Gitarre und singt. Er wird eigentlich immer eingeladen auf ein Essen und lernt so viele Leute kennen.“

„Wie cool! Ich muss auch singen lernen! Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Das geht direkt ins Herz und schafft Verbindung.“

„Genau, du sprichst aber auch viele Sprachen, oder?“, fragt mich Paul.

„Ja, also mit Englisch und Deutsch habe ich quasi zwei Muttersprachen. Französisch und Spanisch funktionieren auch gut, nur ein Ding bereue ich und das ist, dass ich nicht besser Holländisch gelernt habe, während ich studiert habe. Da bin ich aber entschlossen, das nachzuholen, wenn es in Holland weitergehen sollte mit dem Studium.“

„Da hast du auf jeden Fall das richtige Land ausgesucht. Die Holländer sind ein Reisevolk. Du kriegst ja zum Teil sogar Geld von den Arbeitgebern, damit du reisen gehst. Holland ist da sehr fortschrittlich. Hast du schon eine Idee was du später machen möchtest?“

„Hmm, einen typischen Beruf habe ich nicht vor Augen, weil das was ich gerne machen würde keinem gängigen Beruf entspricht“, meine ich. „Am ehesten entspricht es der Rolle eines Lehrers, nur nicht in der Schule. Vorträge halten, neue Perspektiven vermitteln und mich daran erfreuen, wie andere Leute Spaß am Lernen haben, das wäre meine Vorstellung von meinem Arbeitsleben. Vielleicht lässt es sich ja mit dem Reisen verbinden.“

„Interessant“, findet Paul. „Du wirst einen Weg machen, da bin ich mir sicher.“

Was für ein netter und interessanter Mann. Gegen 10:30 Uhr hat Paul einen Termin und ich möchte auch auf die Piste. Mich haben schon auf der Reise einige Menschen gefragt, was ich nach dem Reisen machen möchte. Wenn ich mir so anschaue, wo meine Fähigkeiten und Talente liegen, ist eigentlich relativ klar, dass ich diese in der Rolle eines Lehrers am besten ausspielen kann.

Jetzt muss ich aber erstmal einige Höhenmeter überwinden und da fehlt mir der Sauerstoff zum Nachdenken. Ich komme an uralten Esskastanienwäldern vorbei.

Die Stämme der knorrigen Bäume weisen die abenteuerlichsten Formen auf. Ich meine im Schrei verzehrte Gesichter oder Tiere darin zu erkennen.

Erkennt jemand ein Gesicht am Baum? Ein bisschen Kreativität ist gefragt.

Vom Mittelalter bis zur industriellen Revolution war die Esskastanie eine der Hauptnahrungsquellen in den entlegenen, bergigen Regionen im Süden Europas. Teilweise war sie sogar der praktisch einzige Kohlenhydrate-Lieferant, dort, wo der Getreideanbau unmöglich war.

In einem verlassen Geisterdorf rennt mir ein kleiner, rattiger Köter hinterher, der mich noch 100 m die Bundesstraße hinauf jagt. Zähnefletschend tänzelt er neben mir her und schnappt nach meinen Füßen.

Hoffentlich hat der Hund keine Tollwut, denke ich. Nichts wie weg!

Schätzungsweise sterben noch jedes Jahr etwa 60 Tausend Menschen an Tollwut, fast ein Drittel davon in Indien. Fast immer verläuft die Krankheit tödlich, innerhalb eines Zeitraumes von 15 bis 90 Tagen.

Vor so etwas hätte ich am meisten Respekt auf einer Reise. Mein Gastgeber in Ponts, Jordi, hat mir erzählt, dass er in Thailand von einem Straßenhund gebissen wurde.

Da er nicht gegen Tollwut geimpft war, musste er sich dann die Spritzen gegen Tollwut geben lassen, die über 28 Tage verteilt injiziert werden. Hier herrscht auch ordentlich Zeitdruck: nur innerhalb von 24 Stunden nach dem Biss kann einer Tollwuterkrankung entgegengewirkt werden. Danach ist ein fast sicheres Todesurteil gefällt.

Im Mittelalter dachte man noch, die Tollwut stamme vom Teufel. Doch 1885 entwickelte der französische Chemiker Louis Pasteur (der auch die Grundlagen für die Pasteurisierung von verderblichen Speisen und Getränken legte) eine Impfung gegen die Tollwut. Im selben Jahr impfte er erfolgreich den sechsjährigen Joseph Meister, der von einem tollwütigen Hund gebissen worden war. Die damaligen Impfungen bestanden noch aus dem getrockneten Rückenmark eines tollwütigen Kaninchens.

Mit jeder Impfung steigerte Pasteur die Frische des Rückenmarks, und damit die Potenz der vorhandenen Tollwutviren. So sollte sich eine Immunantwort aufbauen.

Joseph Meister überlebte, und damit war Pasteur eine wissenschaftliche Sensation geglückt. Zeitweise nahm sein Institut mehr als 10% der gesamten französischen Staatsausgaben für Forschung in Anspruch.

Dabei wurde später klar, dass Pasteur an Josef Meister einen Menschenversuch unternommen hatte. Die letzten drei Impfungen dosierte er mit hochpotenten Tollwutviren, um zu testen, ob Josef Meister durch die vorher gegangenen Impfungen tatsächlich immunisiert worden war.

Meister erkrankte nicht. Louis Pasteur war dir der Beweis für die Wirksamkeit seiner Impfung gelungen.

Nach Pasteurs Berechnungen, war übrigens anzunehmen, dass eine von einem tollwütigen Tier gebissene Person nur zu 10% an der Tollwut erkrankt. Da Josef Meister also zu 90% nicht an Tollwut erkrankt war, stellte dieser Versuch ein ethisch hoch fragwürdiges Experiment da. Schließlich hätte es sein können, dass die Immunisierung der vorherigen Impfungen nicht funktioniert hatte – und Pasteur durch seine hochpotente Lebendimpfung Josef Meisters Tod durch Tollwut in Kauf nahm.

Zum Glück gibt es heute auch eine vorbeugende Impfung gegen Tollwut, die man sich vor einer Reise in ein Risikogebiet geben lassen kann. Das wäre meine bevorzugte Strategie!

Während ich über Esskastanien und Tollwut sinniert habe, ist die Zeit verflogen. Langsam muss ich etwas zu Essen suchen, und einen Laden, um für morgen einzukaufen. Dann ist nämlich Sonntag und alles ist geschlossen. Doch ich bin mitten in der Pampa, und es taucht einfach kein größeres Dorf auf.

Erst um 21 Uhr komme ich in einem größeren Ort an, wo allerdings alle Geschäfte bereits geschlossen haben. Notgedrungen setze ich mich in eine Kneipe und esse dort eine Pizza. Ich frage mich, warum so viel los ist.

Dann sehe ich auf dem Fernseher: es läuft Fußball! Champions League Finale, Real Madrid gegen Liverpool. Zusammen mit den aufgeregten Spaniern schaue ich die erste Halbzeit. Doch mit jeder Minute werden meine Augen schwerer, so dass ich noch kurz vor der Halbzeit die Kneipe verlasse und einen ruhigen Platz für die Nacht suche. Neben einem Friedhof werde ich fündig. Das Zelt ist schnell aufgebaut, und ich bin schnell eingeschlafen.

BOOM!

Es blitzt! Dann knallt es ein Dutzend Mal laut hintereinander, als würde jemand mit einem Maschinengewehr in die Luft schießen. Jeder Knall wird durch einen Lichtblitz begleitet. Mein Herz rast und es dauert ein paar Sekunden bis mein vom Schlaf benebelter Verstand kapiert: Madrid hat gewonnen und die Spanier feiern. Nach einigen Minuten beruhigt sich die Stimmung, die Böller und Feuerwerke hören auf und ich kann wieder schlafen. Gute Nacht!

Abendessen in der Kneipe mit dem Fußballspiel im Hintergrund.

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