Tag 67: Billige Bäckereien und eine umgestaltete Bahntrasse

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So interessant die Erfahrung in einer alten Bar zu übernachten auch war, so unruhig war die Nacht. Ich wurde von Mücken geplagt, und trotz der offenen Fenster stand die Hitze in dem kleinen Häuschen. Allerdings kühlte es im Laufe der Nacht deutlich ab, sodass ich am nächsten Morgen bei 20 Grad und einem anfangs noch bedeckten Himmel losfahren kann.

Mein Handy hat noch nicht verstanden, dass ich in Portugal bin. Auf dem Bildschirm steht noch 9 Uhr, doch eigentlich ist es erst acht. Portugal ist in einer anderen Zeitzone, somit kann ich nun offiziell behaupten mit dem Fahrrad eine Zeitzonengrenze überquert zu haben.

Im nächstgelegenen großen Ort, Chaves, bleibe ich bei den Bäckereien stecken und probiere mich durch. Erst zu einer Bäckerei, wo ich zwei Stückchen esse, dann weiter zu einer anderen, wo ich nochmals zwei Stückchen esse und einen Kakao trinke.

In Maastricht habe ich bei meinem Bäcker das Puddinggebäck lieben gelernt. Davon gibt es hier alle erdenklichen Variationen – zu einem Preis, bei dem sogar die Aldi-Bäckerei einstecken kann. Als ich die erste Rechnung bekomme, denke ich die Bäckerin hat einen Fehler gemacht. Zwei sättigende Stückchen für 1,50 €? Geht das? Dafür hätte ich in den anderen Ländern ein gerade mal ein halbes von diesem Kaliber bekommen, doch in Portugal scheint das (jedenfalls im ländlichen Norden) normal zu sein. Hier ist Arbeitskraft noch billig.

Chaves ist geprägt durch die typische portugiesische Architektur. Bunte Häuser mit hohen schmalen Fenstern und häufigen Arkadenbögen. Es sind viele ältere Leute unterwegs, die in Grüppchen auf der Straße stehen und plaudern. Auch die Tourismus-Saison beginnt langsam: neben mir im Café sitzen Franzosen und Engländer.

Gut gestärkt fahre ich von Chaves los. Die ersten 10 km führen mich noch an einer Bundesstraße entlang, wo mich der Verkehr schnell zu nerven beginnt. In der Ferne erkenne ich einen Weg, der wie eine alte Bahntrasse aussieht. Dort fahre ich also hin, und siehe da, es handelt sich tatsächlich um einen Fahrradweg auf einer ehemaligen Bahnschiene.

Der Weg führt durch Täler und über Berge, aber alles mit sanften Steigungen. Ich bin alleine unterwegs, Begleitung finde ich nur durch die Korkeichen links und rechts. An einigen der Bäume sieht man deutlich die Spuren vergangener Waldbrände, die Rinde ist verkohlt.

Korkeichen sind sogenannte Pyrophyte. Das heißt, sie vertragen ausgezeichnet Feuer. Die Korkeiche kann bis zu 400 Jahre alt werden – wobei sich diese Lebensdauer halbiert, wenn die schwammige Rinde geerntet wird.

Noch heute ist Portugal weltweit der größte Exporteur von Korkeichenrinde und stellt etwa die Hälfte der Gesamtproduktion. Schon früher waren Kork und Wein wichtige Exportgüter. Tatsächlich entstand die erste geschützte Weinregion der Welt in Portugal: und zwar genau dort, wo ich gerade fahre, im Alto Douro.

Von besonderer Bedeutung war historisch der Handel mit England, der zwischen den beiden Ländern durch einen gesonderten Handelsvertrag florierte – den Methuenvertrag – hatte. Der Methuenvertrag ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Verknüpfung wirtschaftlicher mit politischen Interessen.

So wurde durch den Vertrag eine Art Freihandelszone zwischen England und Portugal ausgehandelt, die sich auf die Produkte Portwein und Textilien konzentrierte. Gleichzeitig sagte England zu, die portugiesischen Kolonien und Portugal selbst vor Übergriffen durch die mächtigen Gegner Spanien und Frankreich zu schützen. So konnte das kleine, militärisch unterlegene Portugal seine Interessen in den Kolonien gegen übermächtige Gegner durchsetzen. Gleichzeitig brauchten die portugiesischen Herrscher keine Sorgen mehr haben, von Spanien einverleibt zu werden.

Auch in den Wirtschaftswissenschaften diente der Methuenvertrag als Inspirationsquelle für eine der berühmtesten Theorien überhaupt: die Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo. Ricardo wählt Wein und Textilien, um den Vorteil von Freihandel zu illustrieren. Dabei führt der Handel zu einem Wohlstandsgewinn beider Partner, selbst wenn einer der beiden Handelspartner alle Produkte günstiger herstellen kann. Auch für diesen Handelspartner würde es sich lohnen, seine Ressourcen nur auf die Produktion von dem Gut zu verwenden, welches er am effizientesten herstellen kann, und die restlichen Güter zu importieren.

Was heute gängige Praxis ist, war zu Ricardos Zeiten eine radikale Kehrtwende. Die um 1800 vorherrschende Wirtschaftspolitik des Merkantilismus bedeutete, möglichst viel zu exportieren und möglichst wenig zu importieren. Durch Zölle und andere Handelshemmnisse wurden Importe so teuer gemacht, dass sich die Binnenproduktion, egal wie ineffizient, noch lohnte.

Zu diesem Zeitpunkt wurde meist mit Gold und Silber bezahlt, und wer mehr exportierte als er importierte, konnte so stetig seine Gold- und Silbervorräte vergrößern. Für die Merkantilisten war dies die Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik. Freihandel kam also einem Umsturz des vorherrschenden Paradigmas gleich.

Allerdings hatte die Spezialisierung auf Wein Folgen für die Industrialisierung Portugals. Während in der Textilproduktion moderne Maschinen, Dampfkraft und Innovationen wie Farbstoffe, die die moderne Chemieindustrie begründeten, aufkamen, blieb die Weinherstellung hauptsächlich Handarbeit.

So modernisierte sich die portugiesische Wirtschaft erst viel später als andere Wirtschaften in Europa: es gab wenig Anreiz und Möglichkeiten, die Weinproduktion zu industrialisieren. Noch als Portugal 1986 der EU (damals noch Europäische Gemeinschaft) beitrat, galt das Land als ärmstes der 12 EG-Staaten.

Verglichen mit den Mitgliedern von damals ist das Portugal auch noch heute, allerdings hat Portugal wirtschaftlich stark aufgeholt. In der Gesamtbetrachtung, durch die Osterweiterung der EU, ist Portugal heute im wirtschaftlichen Mittelfeld der Mitgliedstaaten angesiedelt.

Ich selbst nähere mich mit der Geschwindigkeit, mit der ich nach Süden vordringe, auch schon fast dem Mittelfeld Portugals. In Vila Real kaufe ich mir in einer Bäckerei eine Quiche und drei Brötchen. Das wird mein Abendessen. Danach führt mich der Weg noch weitere 20 km auf der alten Eisenbahntrasse entlang. Es gibt keine Abfahrten, die ich verpassen kann und auch sonst keine Hindernisse, auf die ich achten muss. Nur das rhythmische Ruckeln der Steine unter den Reifen.

Ich versinke im Takt des Tretens, nehme dabei kaum noch die Umgebung wahr, die an mir vorbeifliegt. Sowas nennt man „Flow“ – ein Anglizismus, der das vollständige Aufgehen in einer Tätigkeit beschreibt. Im Flow ist man dann, wenn es schwieriger ist aufzuhören, als weiterzumachen. Und das ist im Moment der Fall.

Am liebsten würde ich noch Stunden so weiterfahren, doch ich weiß dann komme ich in die Dunkelheit und es wird um einiges schwieriger einen guten Zeltplatz zu finden. Also halte ich mich an mein Motto auf der Radtour und ergreife eine Möglichkeit, wenn sie sich bietet.

Mein Schlafplatz für die Nacht ist ein alter Olivenhain, der mithilfe von Terrassen am steinigen Hang angepflanzt ist. Dort gibt es tatsächlich eine dünne Erdschicht, in die ich meine Heringe eindrücken kann. Ansonsten wäre auf dem felsigen Untergrund das Zelten unmöglich. Der Boden ist sogar relativ eben und ich bin müde: die Zutaten für einen gesunden Schlaf sind also gegeben. Das Einzige, was mir etwas Sorgen macht, sind die vielen kleinen mückenähnlichen Insekten, die in meinem Zelt herumschwirren. Ob die wohl Blut saugen? Spätestens morgen weiß ich es. Gute Nacht und bis morgen!

Die nächsten Tage wird es etwas weniger Berichte geben (vermutlich nur jeden zweiten Tag). Das hängt damit zusammen, dass ich – und relevanter Weise mein Handy auch – ungewollt baden gegangen sind. Die Dateien darauf müssten übrigens noch zu retten sein, Stand jetzt scheint der Speicher in Ordnung zu sein, aber den Bildschirm kann ich nicht mehr benutzen. Daher werde ich mir ein Neues besorgen müssen (dann werden auch die fehlenden Tage nachgeholt, denn interessante Begegnungen und Erlebnisse finden natürlich auch ohne Handy weiterhin statt). Eine kurze Vorschau mit der Erklärung, wie es dazu gekommen ist, gibt es in der folgenden Audiodatei (Audio vom 02.06.2022, Blog Tag 67 ist vom 30.05.2022). 

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