Tag 70: Eine Reise zurück in die analoge Welt

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Um 8:00 Uhr bin ich wach. Die Bussarde, die zu Dutzenden ihre Kreise in der Felsschlucht drehen, schreien laut und anklagend. Der Himmel ist bedeckt. Die Luft ist warm und feucht.

Dirk und Karo schlafen noch, aber ich streife mir meine Klamotten über und spaziere zu den ergrauten Granitfelsen. Ich möchte einige Fotos von interessanten Formationen machen.

Während ich nah am Wasser über die rauen Granitfelsen klettere, mache ich immer wieder Fotos. Der eine Stein sieht aus wie ein Tänzer, die Felswand daneben erinnert mich an ein Kamel.

Es fängt an zu nieseln, wohltuend und unschuldig. Macht nichts, denke ich. Das Merino Oberteil, das ich trage, lässt leichten Regen einfach abperlen und saugt sich nicht voll mit Wasser.

Der Regen wird heftiger. Schön sieht es aus, denke ich, als mein Blick über den spiegelglatten Fluss gleitet, auf dessen Oberfläche die Regentropfen ein regelmäßiges aber sich konstant veränderndes Muster erscheinen lassen.

Ich klettere etwas höher auf dem Felsen, möchte einen kleinen Film von dem Spektakel machen. Plötzlich bewegt sich der Fels.

„Nein!“, schreie ich in meinem Kopf. Das ist nicht der Fels, sondern ich, der in Richtung Fluss rutscht! Schon kommt die Felskante. Ich versuche mich in einem verzweifelten Versuch mit beiden Händen am Felsen abzubremsen, doch vergeblich. Platsch!

Ich bin im Wasser gelandet.

„Scheiße!“, Ist mein erster Gedanke. Mein zweiter folgt sogleich: „Gar nicht so kalt, jetzt, da ich sowieso nass bin, könnte sogar ein bisschen beim Regen schwimmen.“

Erst dann dämmert es mir: Oh nein, ich habe doch mein Handy in der Tasche! Oder hatte ich es vorher auf dem Felsen abgelegt? Ich schaue hoch zu der Stelle, wo ich eben noch stand. Da liegt kein Handy. Ist ja auch klar, ich bin ja ausgerutscht. Wie hätte ich auch Zeit gehabt, mein Handy vorsichtig abzulegen. Mein Hirn denkt nicht logisch. Jedenfalls nicht im ersten Moment.

Jetzt muss es aber schnell gehen: Nichts wie raus aus dem Fluss. Hat mir mein Bruder Pascal nicht mal erzählt, dass mein Handy nicht wasserdicht ist? Ein Krokodil hätte mich nicht schneller aus dem Fluss jagen können. Schon stehe ich tropfend auf einem anderen Feld. Ich taste meine Taschen ab.

Links und rechts an der Hose. Kein Handy. Jetzt steigt mein Puls. Wo ist das Handy? Hatte ich es nicht in der Hand? Ich teste noch einmal alle Taschen ab. Nichts. Es gibt nur ein Ort, wo das Handy sein kann. Und da bin ich eben hinausgeklettert.

Na super. Die Uhr tickt. Das Wasser läuft mit jeder Sekunde ins Gerät.

Wie gehe ich vor? Der Fluss ist nicht so tief, das habe ich schon gestern gesehen. Soll ich eine Badehose holen? Nein, das dauert viel zu lange. Meine Schuhe sind auch nass. Ich lasse sie an. Oberteil aus, und rein ins Wasser.

Der Regen bitzelt kalt auf meiner Haut. Zum zweiten Mal schwimme ich am frühen Morgen im Fluss. Ich suche mit meinen Händen im dunklen Wasser. 1 Minute, 2 Minuten… Die Zeit fürs Handy läuft ab.

Da, auf dem Steinvorsprung, da war doch was. Ja, das ist es! Nur ein Meter unter der Oberfläche. Schnell trocknen, der Bildschirm funktioniert noch. Es erstrahlt eine Nachricht: Ladebüchse deaktiviert, Wasser im System.

Im Zelt ziehe ich meine triefend nassen Klamotten aus, und Wickel das Handy in Papiertücher. Mehr kann ich nicht tun. Ich frühstücke noch gemeinsam mit Dirk und Karo, dann mache ich mich auf den Weg.

Heute möchte ich bis Figueira da Foz fahren, wo ich zwei Nächte verbringen werde.

Ich fahre etwa 2 Stunden und überprüfe die Funktion meines Handys. Der Touch Screen spinnt ein bisschen, aber ansonsten stelle ich keine Veränderungen fest. Gegen 15:00 Uhr mache ich in einem Park eine längere Pause und unterhalte mich mit einem älteren Herrn, der auf einer Bank Gitarre spielt.

„Ich heiße Costa“, erzählt mir der Mann. „Entschuldigung, wenn ich undeutlich spreche oder etwas vergesse. Ich hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall.“

Ob ihm die Musik Hilfe, frage ich. „Ja“, antwortet Costa, „für mich ist die Musik Freude und Meditation zugleich.“

Costa erzählt mir von seinem Leben. Viele Jahre arbeitete er als Einkaufsleiter für eine große Textilkette. In ganz Europa ist er gereist – beruflich. Seine Kinder leben über den Erdball verteilt, in Kolumbien, Schweden und Spanien.

„Ich war immer redselig“, erzählt mir Costa, „Mit dem Schlaganfall hat sich das aber verändert.“ Immer, wenn ihm die Worte fehlen, spielt Costa eine Melodie auf seiner Gitarre. Das tut er auch jetzt, und meint dann zu mir:

„Mein Leben ist nicht die Gitarre, doch die Gitarre ist mein Leben.“

Damit meint Costa, dass er in seinem Leben weit mehr erlebt hat, als nur Gitarre zu spielen. Jetzt, im Alter nach dem Schlaganfall, ist die Gitarre allerdings zu seinem Lebensinhalt geworden.

Wir unterhalten uns über eineinhalb Stunden, bis ich mich verabschiede und weiterfahre.

Ich verfasse diesen Text mithilfe meiner Notizen auf meinem neuen Handy. Als ich eben Costas Beschreibung von seinem Leben diktierte (ich nutze die Spracheingabe, da es deutlich schneller geht als tippen), notierte mein Handy statt „die Gitarre ist mein Leben“ den Satz „Digital ist sein Leben.“ Ich greife diesen Irrtum aus zwei Gründen auf.

Erstens, weil er zeigt, dass es bis heute die größten und mächtigster Unternehmen der Welt nicht geschafft haben, einen Algorithmus für die Spracherkennung zu entwickeln, der fehlerfrei funktioniert. Das illustriert die enorme Komplexität unserer Sprache. Wie erstaunlich, dass jeder von uns zumindest eine Sprache besser beherrscht als Apple oder Google!

Zweitens finde ich, dass der Vorschlag der Spracherkennungssoftware gut auf die digitalisierten Jahrgänge zutrifft.

Mein Leben ist nicht digital, aber digitalisiert ist mein Leben.

So manch einer lebt zwar körperlich in der „wirklichen Welt“, den Lebensinhalt bestimmt aber das Digitale.

Zunehmend verschmelzen Elemente aus dem digitalen Raum und der physischen Welt um uns herum. „Argumentiert Reality“ wird der nächste Schritt in diese Richtung sein. Dennoch gibt es eine klare Trennlinie zwischen den digitalen und realen Welten.

Eine digitale Umgebung ist ein Kosmos ohne Berührung und darin liegt ein wichtiger Unterschied. Ohne Berührung sind und werden wir keine gesunden Menschen (schreckliche Experimente und Vorgänge belegen dies, siehe auch das Kaspar-Hauser-Syndrom oder das Kinderheim Cighid in Rumänien). Wir müssen unsere Umgebung spüren, um menschlich zu werden! Ansonsten verkümmern wir, verwelken und verdorren wie eine Pflanze ohne Wasser.

Jetzt, wo ich nach mit meiner Unterhaltung mit Costa auf mein Handy Blicke, bemerke ich: Handys sind eben keine Pflanzen. Leider. Wo Wasser für uns Leben ist, bedeutet es für digitale Geräte das Ende.

Mein Bildschirm zerfließt vor meinen Augen wie Tinte. Tinte, wie die in meinem Füller – erst dunkelblau, dann schwarz wie Nacht.

Und ich brauche noch die Adresse in Figueira! Schnell schreibe ich die Adresse in mein Notizbuch und schicke noch einige Sprachnachrichten, Um zu erklären, was Sache ist. Text kann ich nicht mehr eingeben, da die untere Hälfte des Bildschirms bereits nicht mehr funktioniert.

So kommt es, dass ich von der Bildfläche verschwinde, genauso wie die Pixel meines Bildschirmes vor meinen Augen verschwinden. Die kommenden Artikel werden kurze Zusammenfassungen sein, wo ich mich befand und was das einprägsamste Ereignis des Tages war. Natürlich gibt es auch für diese Tage ausführliche Berichte, die stehen allerdings alle handschriftlich in meinem Notizbuch. Würde ich versuchen alle meine Texte abzutippen, käme ich nicht mehr dazu Lissabon anzuschauen und die neuen Texte zu schreiben.

Es wird eine also Reise im Schnelldurchlauf! Ziehen wir Helm und Sonnenbrille an, los geht’s!

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