Tag 71/72/73: Ein Wochenende in Figueira und die Suche nach den Riesenwellen von Nazeré

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Tag 71

Figueira da Foz

Ich bin gestern Abend um 20:00 Uhr eingetroffen. Die Navigation ist auch ohne Handy möglich, man muss allerdings auf Menschen zu gehen und sie nach der Richtung fragen. Um das Haus in Figueira zu finden, haben mir zwei nette Frauen geholfen. Eine der beiden ist mit dem Auto vor mir hergefahren, bis wir an der richtigen Adresse standen. Das nenne ich Hilfsbereitschaft!

Eine lustige Beobachtung:

Während ich auf dem Balkon meine Zähne putze, sehe ich, wie zwei große Mäuse einen Busch hochklettern und in den Ästen turnen. Ich bin überrascht, denn ich wusste gar nicht, dass Mäuse so gut klettern können. Es scheint für die beiden ein Spiel zu sein. Wie schön, dass ich dabei zuschauen kann. Ob die Mäuse wohl ahnen, dass sie beobachtet werden?

Ich genieße es nach 15 Reisetagen ohne Ruhetag wieder etwas anderes zu tun als Fahrradfahren. Ich unternehme nicht viel und lese stattdessen die Zeitung „Die Zeit“ vom 7. April. Das ist zwar schon zwei Monate her, doch es ist schön wieder zu lesen!

Meine Reise ist zwar wie ein Buch, an dem ich selbst schreibe. Dennoch vermisse ich gelegentlich ein bequemes Sofa und ein spannendes Buch. Fürs Erste muss „Die Zeit“ herhalten (die übrigens viele gute Artikel beinhaltete).

Tag 72

Figueira da Foz

Nach einem wohltuenden Frühstück um 11:00 Uhr breche ich auf zum Strand. An einer schönen Stelle lege ich meinen Rucksack ab und möchte Badehose und Handtuch herausnehmen. Nur… habe ich sie leider vergessen! Mist! Doch jetzt bin ich schon zum Strand gelaufen und um nicht zu schwimmen ist es viel zu warm. Also mache ich aus der Not eine Tugend und springe splitterfasernackt in den kühlen Atlantik. Ich weiß nicht, ob man das hier so macht – oder darf, aber viele Leute sind nicht unterwegs – und überhaupt, kennen tut mich erst recht niemand. Außerdem, ohne Kleidung ist es viel schöner und angenehmer im Wasser. Das ist Freiheit! Ich kann nachvollziehen, warum FKK im Osten so beliebt ist.

Wenn mich doch jemand anspricht, ich stelle mich doof und behaupte bei uns macht man das immer so. Einem Reisenden wird schließlich viel verziehen. Ich würde dann eine Erzählung von Pascal auftischen, dass manche Leute sogar nackt im Stadtbrunnen baden gehen. Im Winter sogar mit einem Hammer bewaffnet, um das Eis zu brechen. Das finde ich stark.

Ich frage mich: Warum sind wir überhaupt so schambehaftet? Das Leben wird einfacher, wenn man weniger Hemmungen hat. Vielleicht wird es etwas gefährlicher, etwas kontroverser und manchmal auch peinlich, aber so hat man wenigstens immer etwas zum Lachen. Ja, alles in allem wäre die Bilanz doch eine positive.

Ich spaziere barfuß die Länge des Strandes, und springe noch ein zweites Mal in die Fluten. Die Wellen sind größer geworden und ein erster Surfer stellt sein können zur Schau.

Zu Hause werde ich kalt duschen und das ganze Salz abwaschen. Während ich gemütlich zurück spaziere, erlebe ich noch einen lustigen Anblick. Zwei Engländer kommen mir entgegen, Mann und Frau. Er hat ein leuchtend pinkes Hemd an, Am Kragen weit geöffnet. Sie trägt ein luftiges neon pinkes Kleid.

Der Mann läuft leicht gebeugt, als würde er gegen einen kräftigen Gegenwind ankämpfen müssen. Er ist untersetzt und auf seinem Kopf thront ein Wischmopp aus blonden Haaren. Ich schaue ganz genau hin. Der Schritt, die Haare, der Körperbau, das alles erinnert mich an eine sehr berühmte Person.

Könnte das etwa Boris Johnson sein?

Es stellt sich heraus, er ist es nicht. Doch Boris hat einen Doppelgänger, der wohl 20 Jahre jünger ist. Ich muss innerlich schmunzeln!

Zu Hause angekommen springe ich in die Dusche und telefoniere danach bis die Leitungen glühen. Ich habe meine zwei Ruhetage in Figueira genossen, aber langsam wird es mir zu still. Es fehlt die zielgerichtete Tätigkeit, ich stehe außerhalb des Lebens. Ich freue mich, morgen wieder aufzubrechen und die letzten 250 km nach Lissabon in Angriff zu nehmen.

Tag 73

Figueira – Nazaré

Um 12:30 Uhr breche ich auf. Wie immer, wenn man ein Haus verlässt, gibt es unzählige Aufgaben, die man vorher erledigen muss. Habe ich nichts vergessen? Sind alle Fenster geschlossen? Ist der Strom aus? Habe ich den Müll rausgebracht?

Mir fällt gerade ein: Das habe ich vergessen.

Irgendetwas vergisst man immer. Ärgerlich.

Aber an den Müll denke ich schon nicht mehr, als ich das Fahrrad aus der Garage schiebe. Ich bin mit meinen Gedanken schon unterwegs. Zunächst muss ich wieder 10 km in Richtung Coimbra fahren, wo ich den Fluss, der bei Figueira in den Atlantik mündet, überqueren kann. Ein freundlicher Rückenwind pustet mich zum Meer, wo ich durch eine sandige Buschlandschaft fahre.

Ich komme gut voran und fahre einen Schnitt von 25 km in der Stunde. Einmal in der Stunde mache ich eine kurze Pause, um etwas zu essen und mich kurz zu dehnen. Die Straßen sind lang und gerade, wie in den USA. Im Unterschied zu den USA gibt es hier aber einen Radweg.

Fotos kann ich leider keine machen, dafür bleibt mir aber mehr Zeit zum Radfahren. Ich erinnere mich an mein Gespräch mit Paul, den ich in Spanien getroffen hatte. Ich fragte ihn damals: „Wollen wir ein Foto zusammen machen?“ Paul fragte zurück: „Warum? Ist doch im Kopf!“

Dabei tappt er sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und grinst. Paul hat recht, dieser witzige Mann ist mir gut in Erinnerung geblieben. Macht man zu viele Fotos, wird das Gedächtnis „ausgelagert“. Wir verlassen uns auf Pixel und nicht Neuronen, der Kopf wird faul.

Besonders perfide ist, wenn zwischen zwei Fotos Lücken sind, an die wir uns nicht mehr gut erinnern. Dann konfabuliert unser Gehirn mit Freude, und bastelt sich eine Geschichte zusammen, die sich so gar nicht zugetragen hat. Diesem Problem begegnen Richter häufig, wenn Zeugen befragt werden.

Nichtsdestotrotz sind Fotos eine gute mentale Krücke. Für alle, die nicht dabei sein können, geben Sie einen Eindruck meiner Erlebnisse wieder. Wenn ich nur für mich reisen würde, würde ich wahrscheinlich nur sehr wenige Fotos machen. Aber ich habe Familie und Freunde im Gepäck, und die haben Fotos verdient. 😊

Nach 110 km und 5 Stunden Fahrt erreiche ich Nazaré. Von den berühmten 30 m Wellen ist allerdings nichts zu sehen. Der Atlantik ist zahm wie ein Lamm. Gegen 20:00 Uhr setze ich mich in ein indisches Restaurant, wo ich mich mit zwei Philosophiestudenten aus Finnland unterhalte.

Es wird ein kurzweiliger Abend und als ich schließlich aufbreche, um einen Schlafplatz zu suchen, liegt sich schon die Dämmerung über mir. In einem Pinienwald nur wenige Kilometer hinter Nazaré werde ich fündig und stelle mein Zelt auf einer Anhöhe mit Meeresblick auf. Von dort aus schaue ich zu, wie die letzten zartrosa leuchtenden Wolken ergrauen und langsam im Dunst der Nacht verschwinden.

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