Tag 76: Ein kunterbuntes Lissabon

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Heute bin ich zusammen mit Rita den ganzen Tag durch Lissabon gelaufen. Es gab so viele ausgefallene Gestalten! Männer im Damen-Top. Zwei Frauen, die eher Walrossen als Menschen ähneln und vor einer eingestürzten Kirche missglückte Pirouetten drehen. Bettler in Lumpenkleidung, ältere Ehepaare in elegante Aufmachung. Touristen, die von einem Selfie zum nächsten eilen. Und über allen stehen die Einheimischen, die an den Wäscheleinen, die über die Straße gespannt sind, Wäsche aufhängen.

Wir laufen durch die Gassen, schauen hier und da in Gebäude und Kirchen. Wir bleiben länger stehen, um einer Percussion-Band aus Valencia zuzuschauen. Die Trommeln verursachen eine bombastische Stimmung. Bis auf Rita und ein zwei Leute, die dem Aussehen nach aus Übersee kommen, sind aber die meisten zu gehemmt, um mit dem Rhythmus zu tanzen. Sich in der Öffentlichkeit einfach gehen zu lassen scheint auch, dafür sind wohl sogar die meisten Portugiesen zu gehoben. Dort, wo es uns gut gefällt, setzen wir uns in ein Café und essen ein Pastel de Nata, selbstverständlich mit Zimt, und trinken einen Kaffee.

Während wir durch die Stadt laufen, erzählte mir Rita von Lissabons bewegter Geschichte. Von dem Erdbeben am 1. November 1755, welches die These, die Natur sei beherrschbar, zunichtemachte.  Durch dieses Erdbeben verschwand der Optimismus, und die Menschen befanden sich in einer Sinneskrise.

Wie konnte ein guter, barmherziger Gott so etwas zulassen? Warum lieb der Palast der Inquisition stehen, Verbrecher am Leben, wo gleichzeitig Kloster einstürzten, und Gläubige bei lebendigem Leib verbrannten? Wo war da die Gerechtigkeit?

Darüber würden Philosophen noch viele Jahre rätseln und unterschiedlichste Lösungen vorschlagen. So wie Lissabon an jenem Tag in Schutt und Asche verwandelt wurde, zerbröselte auch der stetige Fortschrittsoptimismus.

Nach dem Erdbeben wurde Lissabon wieder aufgebaut, was ohne die üppigen Einnahmen aus dem Kaffee- und dem Gewürzhandel und der Arbeit tausender Sklaven sicher schwierig geworden wäre.

Heute kann man weit auf den Fluss hinausschauen, früher wäre dort ein Wald aus Masten und Takelagen gewesen. Doch nicht nur der Handel blühte, auch die Literatur und die Kunst. Wir laufen an den Cafés vorbei, wo sich die Literaten trafen und diskutierten.

Irgendwann stehen wir vor einem Gebäude und Rita fragt mich, woran es mich erinnert. „Ein Gefängnis“, sage ich. „Ja, richtig. Hier hat die Pide, die Geheimpolizei Salazars, seine politischen Gegner ein gesperrt. Salazar hat ein sehr gespaltenes Erbe hinterlassen“, erzählt Rita. „Einerseits hatte er ganz klar Züge eines Diktators“, Rita deutet mit ihrer Hand auf das Gefängnis. „Andererseits führte er ein Leben, das weit vom Personenkult und dem opulenten Lebensstil anderer Diktatoren entfernt war. Salazar war ja eigentlich Wirtschaftsprofessor in Coimbra (eine historische Stadt, die in der Nähe von Figueira liegt).

Er lebte bescheiden und starb unspektakulär an den Folgen eines Sturzes aus seinem Sessel. Er schaffte es die ökonomische Lage im Land zu stabilisieren und hielt Portugal aus dem zweiten Weltkrieg heraus.

Die Nelkenrevolution, die Portugal 1974, zwei Jahre nach Salazars Tod, in einer Demokratie führte, erlebte Rita bereits vor Ort mit. „In dieser Zeit stand Portugal auf einem Scheideweg“, erzählt mir Rita. „Eine Soviet-Republik nach dem Vorbild von Tito in Jugoslawien, oder eine Annäherung an die anderen westeuropäischen Länder – solche Entwürfe standen im Raum.“

Ebenso erlebte sie, wie sich die Alphabetisierung verbesserte. Und wie Portugal sich immer weiterentwickelte. Diese Entwicklung hat Licht aber auch Schattenseiten. Fälle, wo Leute von Balkonen auf Köpfe hinunter urinieren, sind seltener geworden. Doch durch die Politik der goldenen Pässe, wodurch immer mehr wohlhabende Ausländer sich in Portugal einkaufen, sind neue Probleme entstanden.

Ein Skandal, findet Rita, die Stadt wird unbezahlbar. Gleichzeitig sind viele junge Leute überqualifiziert für die Jobs, die sie machen, und können trotz zahlreicher Ausbildungen und Abschlüsse das Leben in Lissabon nicht mehr finanzieren.

Ich frage meine Tante, wie sie nach 50 Jahren in Lissabon denn auf die Deutschen blickt. „Ich vermute, die würde mich an Nerven“, sagt sie.

„Wieso?“

„Irgendwo auf dem Weg ist die Ursprünglichkeit verloren gegangen in Deutschland, so wie den Kühen die Hörner. Das hat übrigens Versicherungsgründe (durch die erhöhte Unfallgefahr)“, fügt Rita noch hinzu. „Portugal erstickt nicht an seiner Korrektheit, es ist lockerer.“

Wir blicken von einem Miraduoro, einem Aussichtspunkt, auf die Dächer der Stadt. Rosa ist die Farbe der Aristokraten, erzählt Rita. Ich suche in dem Häuser Labyrinth nach rosa Gebäuden.

Als wir gehen, hält uns ein dunkler Mann auf und will Armbänder verkaufen. „Die schenken“, sagt er, „für euch“. „Okay“, sagt Rita, „sehr nett“. Der Mann streift uns zwei Armbänder über. Plötzlich will er aber doch Geld. War ja klar. „Fünf Euro!“, fordert er und hält die Hand auf.

„Nein, das muss man schon vorher sagen“, erklärt Rita. „Ich spreche nicht gut Englisch komme aus dem Senegal“, sagt der Mann. Er versucht sich herauszureden, alles als Missverständnis darzustellen. Dabei hat er die Masche absichtlich so aufgezogen. Während der redet, lugt er auf Ritas Handtasche, wo auch ihr Geldbeutel ist. Rita holt einen Euro hinaus. Der Mann will mehr. „Drei Euro!“

Auf meinen Versuch ihn auf Französisch in ein Gespräch zu verwickeln, geht er nicht ein. Schade, sein Kopf ist von der Gier nach Geld ganz woanders.

„Dann bitte schön“, sagt Rita und gibt ihr Armband dem Mann zurück. Sie drückt den Mann ein Euro in die Hand, der zerknirscht schaut. Was für eine traurige Seele.

Wir laufen weiter. Etwa eine Stunde später kommen wir an einem Rikscha-Fahrer vorbei, der ohne Grund anfängt Rita zu beschimpfen, als sie keine Fahrt von ihm kaufen will. „Scheiß Touristen!“, schnauzt er sie an. Der Mann wirkt ein bisschen wahnsinnig und redet inkohärent. Rita schlägt mit voller Breitseite zurück und sagt dem Mann, was sie von ihm hält. „Was für ein dumpfer Typ“, meint sie später zu mir. „Der musste wohl Dampf ablassen. Davon gab es früher viel mehr, man muss sich vor so Leuten in Acht nehmen, die suchen regelrecht eine Schlägerei.“

Es ist später Nachmittag, und wir hören noch drei brasilianischen Straßenmusikanten zu. Berauscht von Lissabon fahren wir schließlich mit der Metro zurück nach Hause. In der U-Bahn sind wieder einige bunte Gestalten mit Tattoos. Warum gibt es so viele Leute mit Tattoos, die aussehen als hätte sie ein Sechsjähriger gestochen? Ich kann es mir nur über Geldmangel erklären.

Aber keine Sorge, ich lande nicht in der Kindergarten-Tattoostube und komme unversehrt nach Hause. Gute Nacht!

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