Es ist schon fast 2:00 Uhr nachts, als mir noch ein Gedanke kommt, den ich unbedingt zu Papier bringen möchte. Er handelt von etwas, was ich die „Einheitswelt“ nenne.
Was meine ich mit „Einheitswelt“?
Im digitalen Zeitalter geht der geographische Ort als entscheidendes Bestimmungsmerkmal der Umgebung verloren. Die digitale Umgebung sieht von überall gleich aus, egal ob man sich in Thailand am Strand oder in Bolivien auf einem Vulkan befindet. Google bleibt Google, Instagram bleibt Instagram. Digital bewegen wir uns in einem Einheitsbrei. Dieser lässt sich maximal in einige große Welt Regionen unterteilen, wie das amerikanisch geprägte Internet, das russische Internet oder das chinesische Internet.
In gewisser Hinsicht ist der konstante Zugang zur digitalen Einheitswelt der Untergang einer absoluten, einer puren Reise, wo man gezwungen ist, sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Immer wenn die veränderte Umgebung einen heute überfordert, kann man sich in die vertraute digitale Einheitswelt flüchten. Ob man so wirklich vom Alten loslassen und sich vollständig neuen Erfahrungen öffnen kann?
Humboldt drückt sich folgendermaßen aus, als er die endlos großen Grasflächen der Region Llanos in Kolumbien überblickt: „Die Unermesslichkeit des Raumes spiegelt sich in uns selbst wider“.
Ich denke, dass sich Öffnen für neue Erfahrungen bedeutet, das Neue in sich selbst widerspiegeln zu lassen. Um den Begriff des deutschen Soziologen Hartmut Rosa zu verwenden, in Resonanz mit seiner Umwelt zu treten.
Humboldts schönes Zitat über die Unermesslichkeit des Raumes lässt sich aber auch ins Gegenteil verkehren. Die Enge des Raumes spiegelt sich in uns selbst wider. Wer nie die Grenzen verschiebt und Neues versucht, wird auch nie den Raum vergrößern, in dem er sich bewegt und in dem er denkt.
Um 2:00 Uhr nachmittags habe ich mein Interview für den Vier-Länder-Masterstudiengang „Master in European Business“ gehabt. So interessant der Studiengang durch seine geographische Vielfalt ist, so enttäuscht war ich von dem Interview selbst. Ich glaube, man müsste im Bereich der Interviewführung ein bisschen Nachhilfe anbieten! Ich jedenfalls verlasse das Bewerbungsgespräch mit dem Gefühl, dass ich es hier mit Kieselsteinen und nicht Bergkristallen zu tun habe.
Nach einer relativ lockeren Öffnung bekommt die Wissenschaftlerin, die mich interviewt, keinen guten Bogen zu den Fragen hin. Sie murmelt und stammelt vor sich hin: „Also wir müssen auch ihre Management-Kenntnisse abfragen. Können Sie mir ein Managementkonzept nennen?“
Kein Problem, mache ich. Davon gibt es ja mehr als Sand am Meer. Ich nenne das so genannte „Lean Management“ als Beispiel, erkläre Ursprung, Vorteile und Tücken. Frage abgehakt.
Auf eine wirkliche ausführliche Diskussion scheinen die beiden Interviewer aber nicht vorbereitet zu sein. Sie wechseln das Thema und fragen mich, ob ich lieber die Arbeitsschritte in einer Gruppe aufteilen oder alles zusammen erledigen würde.
Das hängt von der Gruppe ab, sage ich.
Ob ich ein Leader sei, fragt mich die Dame.
Das kann man vielfältig interpretieren, erkläre ich. Mir gefällt der Begriff des „Facilitators“ (etwa Moderator) besser.
Dann kommt eine etwas dämliche Frage: „Wie kannst du als Unternehmen die Zukunft planen?“
Die offensichtliche Antwort ist natürlich: „Gar nicht! Kein Unternehmen hat Corona vorhergesehen. Genau aus diesem Grund entwirft man aber Szenarien, die mögliche „Zukünfte“ durchspielen.“
Zu guter Letzt kommt eine Frage, die vermutlich zu den beliebtesten Fragen in Interviews zählt.
„Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?“
Bereits über die Interviewer macht diese Frage eine Aussage. Sie suggeriert eine gewisse Einfallslosigkeit. Statt wirklich mich als Person besser verstehen zu wollen, wird eine Frage, die plakativ zu beantworten ist, gestellt.
Letzten Endes ist sie nur eine Abwandlung von: Was möchten sie nach dem Studium machen? Die Frage wurde mir schon so häufig gestellt, dass ich schnell eine Antwort geben kann. Doch natürlich ist es so, je öfter man sie sagt und je geschliffener die Antwort wird, umso weniger denkt man über die eigentliche Frage nach. Die Antwort wird zu einer Floskel.
Über die Problematik (in dieser Frage inhärent) einen bestimmten Ideal-Lebenslauf zu verfolgen, habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben.
Mein Fazit war damals, dass man verblindet und viele unvorhergesehene Gelegenheiten gar nicht mehr wahrnimmt. Wahrnehmung ist stark an Erwartungen geknüpft, und wenn meine Erwartungen nur auf ein geplantes Ziel gerichtet sind, wird die Wahrnehmung eben sehr selektiv.
Selbst wenn man andere Chancen wahrnimmt, denkt man „das kann ich mir jetzt nicht leisten, ich muss vorankommen“. Später bereut man, so engstirnig gewesen zu sein. Vorankommen tut man auch, wenn man im Kreis fährt oder sich verirrt.
Der Zeitraum von 10 Jahren stört mich auch.
Wenn ich schon heute sagen kann, was ich 10 Jahre in der Zukunft mache, hört sich das nach einem echt langweiligen Leben an!
Ein Buch lebt von unerwarteten Wendungen, und das Leben wird dadurch auch spannend.
Aber genug kritisiert:
Eine viel bessere Frage, die ebenfalls die langfristigen Ziele eines Kandidaten abfragt, wäre etwa: Was möchten Sie eines Tages ihren Enkelkindern erzählen können über ihr Berufsleben?
Es ist meiner Ansicht nach sinnvoller, eine Frage zu stellen, wo die Antwort möglicherweise erahnen lässt, an welchem Wertekompass eine Person ihr persönliches Narrativ ausrichtet. Daraus lässt sich besser schließen, ob ein Kandidat gut passt. Außerdem hat man nicht das Problem, eine willkürliche Zeitspanne von 10 Jahren zu nehmen.
Goethe brauchte für seinen „Faust“ 60 Jahre. Was hätte er zu dieser Frage gesagt? „Ich sehe mich am Schreibtisch…“
Nach sieben oder acht Minuten sind wir durch den Fragenkatalog durch, dann drehe ich den Spieß um und stelle meine eigenen Fragen.
Ich möchte über die Organisation des Programms, was die beiden Interviewer denken Sie besonders macht und den Ablauf eines normalen Studententages erfahren.
Zum Schluss frage ich, wie meine Interviewer als Wissenschaftler denken, dass Lernen am besten funktioniert. Die Antwort ist ähnlich, wie ich sie erwartet habe.
Diese Erzählung wird an den Unis rauf und runter geleiert:
Lernen funktioniert am besten in einer sicheren Umgebung, wo jeder seine Meinung geschützt zum Ausdruck bringen kann.
Geschützt vor was? Kritik?
Wenn ich solche Sätze höre, fühle ich mich wie ein Plüschtier. In Watte eingepackt, zu sensibel und zerbrechlich für die „echte“ Welt da draußen.
Studenten brauchen eine sichere, kontrollierte Umgebung am besten ohne irgendwelche emotionalen Spitzen und Leidenschaft. Ohne unvorhersehbare Wendungen. Wie langweilig!
Diese Reise hat mir bisher gezeigt, dass es genau die Dinge sind, die man nicht vorher gesehen hat, die einen wachsen lassen und die Erfahrungen schaffen, die man nicht so schnell vergisst.
Eine sichere Umgebung mag die allgemeine Grundlage sein, sich überhaupt mit etwas anderem als dem Überleben zu beschäftigen. Doch das ist nicht die sichere Umgebung, die in der Antwort gemeint war. Nein, hier war eine emotional sichere Umgebung gemeint, eine Umgebung, wo Thesen nicht angegriffen werden, damit ja keiner sich verletzt fühlt.
Kein Wunder, dass ich an der Uni so gut wie nie eine ernsthafte Debatte erlebt habe. Es gäbe viel Stoff dafür in den Wirtschaftswissenschaften.
Muss man Positionen nicht auf die Probe stellen, unter Druck setzen, um zu schauen, ob sie nicht zerbrechen an ihren inneren Widersprüchen?
Meine Meinung ist eindeutig:
Natürlich muss man das! Alles andere ist gefährlich. Man kann es nicht allen recht machen und im Versuch Harmonie herzustellen wird die ernsthafte intellektuelle Auseinandersetzung vernachlässigt.
Mit diesen Worten verabschiede ich mich. Jetzt wird geschlafen statt philosophiert in Lissabon!