Tag 80: Ein Blick in die Abgründe des Mittelalters und Geheimtipps zum Radfahren

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Heute besuchen wir die Festung von Lissabon, die ursprünglich von den Mauren gebaut wurde. Später, als das Gebiet von Portugal durch die Christen zurückerobert wurde, haben die christlichen Streitkräfte die Burg einfach übernommen.

Als wir aus der Metro aussteigen, laufen wir über einen weiten Platz, wo 1506 ein Massaker an tausenden Juden stattgefunden hat. Ein Stern, der im Boden eingelassen ist, bildet ein Denkmal.

Vor fast genau 500 Jahren peitsche an diesem Ort ein radikaler Mönch Menschenmassen auf, die sich sogleich auf die Juden aus dem Viertel stürzen. Frauen und Kinder wurden aus den Fenstern geschleudert, ganze Familien abgeschlachtet.

1506 war nur der geringste Teil der Bevölkerung gebildet: der Großteil bestand aus Analphabeten. Das Massaker ist sicherlich nur deshalb in dieser Form möglich gewesen, weil die normale Bevölkerung zu kritischem Denken nicht in der Lage war. Das Wort von einem Mann Gottes wurde nicht hinterfragt, sondern war ein Blankoscheck für die Wahrheit. Die vollständige, erstmals aus dem lateinischen übersetzte Lutherbibel würde erst 1534 erscheinen – bis dahin hielt die Kirche das Wissensmonopol. Bis zur Publikation von Immanuel Kants Magnum Opus „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) würden nochmals 250 Jahre vergehen.

Nur wenige Meter entfernt steht ein weiteres Zeugnis von Aberglauben und Hysterie: Jenes Gebäude, wo Lissabons Inquisition Angst und Schrecken verbreitete. Hier wurden angebliche Hexen und Häretiker gefoltert, bis sie gestanden, ein Pakt mit dem Bösen geschlossen zu haben.

Die letzte wegen Hexerei hingerichtete Frau in Europa wurde 1807 zum Tode verurteilt, im heutigen Polen. Allerdings finden noch heute in Teilen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens Hexenverfolgungen statt.

Mit einer unabhängigen Justiz, Alphabetisierung, sowie der Trennung von Staat und Kirche sind wir weit gekommen in Europa. Weit mehr Menschen als früher sind in der Lage, sich selbst ein Urteil zu bilden – und können erwarten, im Falle einer Anklage ein unvoreingenommenes Verfahren zu bekommen. Es zeigt sich: Bildung und Urteilsbildung – das sind enge Verwandte.

Wir besichtigen eine Kirche, die vor rund 40 Jahren abgebrannt ist. Rita hat hier sogar schon gesungen. Das Dach wurde später rekonstruiert, sodass ein faszinierendes Zusammenspiel aus altem Bau und neuen Elementen entsteht. An den originalen Gesteinssäulen sind die äußersten Schichten abgeplatzt im Inferno, so dass die raue Oberfläche der Säulen stark kontrastiert mit dem glatten, rötlichen Deckengewölbe.

Wir laufen weiter durch ansprechende Straßen, mit bunten Häusern und vielen kleinen Geschäften. Nach rechts blicken wir eine belebte Straße entlang auf einen freistehenden Aufzug, den Raoul Mesnier du Ponsard (möglicherweise ein Lehrling von Gustav Eiffel) im Jahr 1899 anfertigte.

Selbst profitieren wir ebenso von der Bequemlichkeit eines Aufzuges, wenn auch einer ohne denkwürdige Vergangenheit. Über zwei Aufzüge geht es hoch zur Festung, wo wir in einem Restaurant Sardinen essen und uns mit einem Ehepaar unterhalten. Mario und Rita dolmetschen für mich, wobei wir uns auch ein wenig auf Spanisch unterhalten können.

Der Mann ist passionierter Fahrradfahrer, und hat sogar bei der nationalen Mountainbike-Meisterschaft in Portugal teilgenommen. Obwohl er selbst kein Profi ist, hat er oft die Profis geschlagen und ist auf dem Podest gelandet.

Er erzählt uns sein Geheimrezept, was ich erst nicht glauben kann:

Wackelpudding!

Mit etwas mehr Wasser zubereitet, wird der Wackelpudding nicht so fest und man kann ihn in eine Trinkflasche füllen. Wenn man heftig atmet und der Mund ganz trocken ist, kann man den glibberigen Wackelpudding immer noch gut herunterschlucken. Gesüßt sind auch die nötigen Kohlenhydrate dabei. Das wird ausprobiert.

Vom Restaurant steigen wir die letzten Meter zur Festung hinauf, von wo aus wir einen grandiosen Ausblick über die Altstadt von Lissabon genießen. Es ist einiges los, ich höre viele Amerikaner, Holländer und Deutscher.

Auf einer schattigen Bank setzen wir uns hin und lesen, während ein stetiger Strom an Menschen an uns vorbeigeht.

Auch wenn hier jeder brav und konform aussieht (Touristen), macht es trotzdem Spaß, die unterschiedlichen Gestalten, Kleidungsstile und Verhaltensweisen zu beobachten. Schon in Barcelona war das bunte Treiben wie ein Kino – und hier in Lissabon ist es nicht anders. Genau wie die Natur, bietet auch eine Stadt viele Anregungen. Sie sind nur etwas andere Art.

Ein Ombu-Baum. Eigentlich wachsen sie in der Pampa Südamerikas, doch dieser fühlt sich auch in Lissabon wohl.

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