Als meine Großtante nach Portugal kam, galt das Land noch als das Armenhaus Europas. Vieles erinnerte sie an ihre Kindheit nach dem Krieg. Es gab kaum geteerte Straßen und auch die Häuser rochen wie in den 50er Jahren in Deutschland; ein Duft, der Rita an Kernseife erinnerte.
„Damals, als ich nach Portugal ging war mir klar: Ich brauche Raum, um meine Flügel auszubreiten. Diesen Raum, den fand ich in Portugal. Der Abstand und die Distanz nach Deutschland ermöglichten mir die Selbstentfaltung.“
„Aber Abschiede fallen schwer“, erzählt mir Rita. „Die Familie konnte sich meinen Umzug kaum vorstellen. Jeder hatte seine eigene Art, einen Abschied zu verarbeiten. Einige suchten die Nähe, andere den Abstand.“
„Als Deutsche war ich hier in Portugal immer etwas Besonderes“, erzählt Rita. „Ich kam aus einem reichen Land mit Industrie, Straßen und Autos. Ein Land, wo viele Portugiesen arbeiten wollten. Meine Herkunft bedeutete, dass ich immer ein wenig von außerhalb auf die Lebenswelt der normalen Portugiesen schaute. Ich war gut gebildet, war gereist und genoss ein Ansehen, sogar unter Männern.“
„Trotzdem war es oft so, wenn mich Menschen anriefen und sich nach mir erkundigten, augenscheinlich aufrichtig interessiert, dass ich nur die Eintrittspforte zu Mario war. Meistens ging es nämlich in Wirklichkeit darum, eine Konsultation bei ihm zu ergattern.“
„Die Strukturen in Portugal haben sich gewandelt in den letzten Jahrzehnten, doch damals waren auch in Lissabon die meisten Familien traditionell gesinnt und stark patriarchalisch aufgebaut. Im Norden ist es noch heute zum Teil so. Eine Frau, die allein ins Café ging – das war ein Unding. Männer bestimmten die Familiengeschicke, Männer machten das Gespräch“, erzählt mir Rita am Küchentisch.
Jetzt, wo Lissabon stark gewachsen ist und sich der Welt geöffnet hat, ist die Stadt moderner, kosmopolitischer und pluralistischer geworden. Das Land ist insgesamt wohlhabender geworden, mehr Portugiesen können reisen und die Welt sehen.
„Doch es gibt auch mehr Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind“, meint Rita. „Mit den geringen Gehältern und den ins Unermessliche gestiegenen Mieten und Häuserpreisen in Lissabon fallen immer mehr Menschen durch das Raster und sind auf Wohltätigkeitstafeln und Nachbarschaftshilfen angewiesen. Wo der Staat versagt, oder nicht genug leisten kann, muss die Zivilgesellschaft einspringen.“
„Und klappt das?“
„Der Gemeinschaftssinn ist hier zum Glück noch ausgeprägter, als ich das in Deutschland erlebe. Irgendwie kommt man über die Runden.“
„Wie eine Gesellschaft ihre Schwächsten behandelt, sagt mehr über ihren Entwicklungsstand aus als jede Statistik“, sage ich.
„Weißt du wer die Schwächsten sind?“, fragt mich Rita. Ich kann mir mehrere Gruppen vorstellen.
„Es sind die Tiere“, sagt Rita. „Und da gibt es in Portugal viele Nachholarbeit.“
Ich muss denken an die vielen Straßenhunde, die ich auf meiner Reise gesehen hab. Zusammengerollt, wie elende Kellerasseln in einem kleinen Fleckchen Schatten. Aggressiv, mit verdorbenem Charakter. Oder misstrauisch und schüchtern, wie der erste Hund in Nord Spanien, der mich aus sicherem Abstand beobachtete, während ich eine Kleinigkeit aß.
Wer Tiere behandelt wie Dreck, ist nur ein kleiner Schritt davon entfernt, auch andere Menschen wie Dreck zu behandeln. „Klar“, gesteht Rita, „man kann nicht jeden Hund retten. Man tut sich auch keinen Gefallen, mit fünf Tieren in der Wohnung, die nur alles verdrecken. Bei vielen Tieren ist der Schaden irreparabel. Aber wer sich einen Hund anschafft, der sollte wenigstens um das Tier kümmern. Ansonsten sollte man es lieber lassen.“
Während wir reden, backt Rita einen Kuchen mit den Aprikosen, die wir gestern Abend gepflückt haben. „Ich backe selten Kuchen“, erzählt Rita, „im Sommer verwandelt sich nämlich beim Backen die Küche in eine Sauna, und gut für die Energiebilanz ist es sowieso nicht. Außerdem muss ich ihn dann einfrieren.“
„Da wir in den letzten zwei Jahren nicht so viele Gäste hatten, sedimentiert sich das Essen wie die Gesteinsschichten, und schließlich befinden sich unten in der Kühltruhe nur noch Essensfossilien. Wer das nicht möchte, ist gezwungen immer die Gerichte zu machen, die gerade wegmüssen bevor sie verderben. Das will ich nicht.“
„Du willst dich also nicht der Diktatur der Kühltruhe unterwerfen“, scherze ich.
„So ist es.“
Wir kommen noch einmal auf das soziale Klima in Portugal zu sprechen.
„Weißt du, mir gefällt hier, dass insgesamt unter den Portugiesen die Verbundenheit größer ist als in Deutschland. Portugiesen jammern auch nicht“, sagt mir Rita. „Sie beklagen sich nicht, sondern passen sich den Umständen an. Portugiesen sind sehr diplomatisch, das soziale Klima ist angenehm.“
„Aber als Deutsche musste ich mich da erst mal dran gewöhnen. Anfangs bin ich öfter mal angeeckt – heute passiert das eher meinen Freunden, die aus Deutschland zu Besuch sind“, lacht Rita. „Die nennen das Kind beim Namen, und das verkraftet nicht jede portugiesische Seele.“
Interessant, wie unterschiedlich Länder sind. Trotzdem sind das Feinheiten: Im Großen überwiegen für mich die Gemeinsamkeiten.