Tag 84: Wilde Zitronen, ein Engländer und verrückte Reisegeschichten

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Es ist 12:25. Bis auf eine Karotte und eine der riesigen Zitronen, die hier oft am Straßenrand wachsen, habe ich auf den ersten 40 km nichts gegessen. Die Strecke ist relative eben und meine Vorräte sind von der Woche in Lissabon noch prall gefüllt.

Jetzt fängt der Magen allerdings schon an zu knurren. Die Gewitterwolken, die meine ständigen Begleiter sind, tun es meinem Magen gleich. Unter einer Mittelmeer-Kiefer setze ich mich auf einen Stein und esse das übliche Frühstück aus Joghurt (heute Kefir) mit Haferflocken, Kürbiskernen und etwas Quitten-Marmelade zum Süßen.

Die Quitten-Marmelade hier ist anders als in Deutschland. Sie ist sehr fest und lässt sich schneiden wie Butter. Mit etwas Rühren verteilt sie sich aber gut im Joghurt.

Nun bin ich wieder gestärkt und werde die nächsten 80 km in Angriff nehmen. Eulen gibt es hier scheinbar auch, denn gerade eben habe ich eine kleine Schwungfeder gefunden. Sie ist von feinen Härchen bedeckt, die den geräuschlosen Flug der Eulen ermöglichen.

Ich steige gerade auf, um weiterzuradeln, als ein älterer Herr auf einem weißen Rennrad der Marke Canyon vorbeigefahren kommt. Er fragt mich in bestem britischem Englisch, ob alles in Ordnung sei. „Ja“, sage ich. „Alles bestens!“

Wir kommen ins Gespräch. „Bist du auf der Autobahn gefahren?“, fragt mich der Engländer.

„Neh, mein Navi wollte mich da zwar lang führen, aber ich hab´ mir gedacht ‚No way!‘ und hab stattdessen diese schöne kleine Landstraße genommen.“

„Das hast du richtig gemacht“, sagt mir die Engländer. „Ich habe gehört, dass man auf der Autobahn 120 € Strafe riskiert. Vor ein paar Jahren war das noch eine ganz normale zweispurige Landstraße, die zu den Öl-Terminals hier an der Küste führte. Aber dann hat man die Straße plötzlich als Autobahn deklariert – es ist mir ein Rätsel, warum.“

„Ah, ich sehe gerade: Du hast einen Brooks Sattel!“

„Ja, das ist gute britische Handwerkskunst“, antworte ich.

„Auf einem guten Deutschen Fahrrad“, vervollständigt der Engländer meinen Satz. „Als ich in den sechziger Jahren Rennen in England gefahren bin, hatte ich auch einen Brooks, aber einen mit großen Kupfernieten.“

Zukünftig werde ich mir wahrscheinlich auch einen Brooks mit Kupfernieten kaufen. Ich habe nämlich festgestellt, dass bei den normalen Metallnieten durch meinen salzigen Schweiß und der Reibung die Chrombeschichtung sich angefangen hat zu lösen. Die Folge ist, dass sie langsam zu rosten beginnen.

„Wo kommst du eigentlich her?“, fragt mich die Engländer noch. „Ich kann dein Englisch irgendwie nicht platzieren.“

„Das ist Wisconsin-Englisch. Ich habe acht Jahre in Amerika gelebt.“

„Ah!“, sagt der Engländer, „das erklärt‘s. Irgendwie ist da was Amerikanisches in deinem Englisch, stimmt.

„Ich habe elf Jahre in Südafrika gelebt, bin 1992 zurückgezogen, aber noch heute gibt es Menschen, die meinen, ich käme aus Südafrika. Ja, Dialekte sind schon was Tolles, auch wenn ich sie überhaupt nicht nachmachen kann!“, sagt er und lacht.

Es fängt an zu tröpfeln. „Du meine Güte! Das ist ja wie in England!“, ruft der Engländer. „Ich wünsch dir noch eine gute Reise!“

15:30

Die ersten 80 km sind geschafft! Jetzt fehlen mir noch 40 km bis zum Ziel, das Haus von Patricio, einem Freund von Mario und Rita. Teils führte mich die Strecke direkt am Meer entlang, mit Blick auf ein großes Containerschiff der Reederei MSC.

Die endlose Weite des Ozeans scheint mir zuzurufen „Komm, steche in See!“ Die Meeresoberfläche spiegelt die Sehnsüchte. Wenn ich in die Ferne schaue, fange ich an von fernen Ländern zu träumen.

Ich folge größtenteils dem Verlauf der Euro-Velo 1 Route. Deshalb begegnen mir auch wieder mehr Radfahrer.

Ich treffe ein junges Pärchen aus Bordeaux, die nach Huelva gefahren sind und nun auf dem Rückweg sind. Die junge Frau hat auf ihrem Rennrad ziemlich zu kämpfen, denn mit ihren schmalen Reifen sinkt sie in die weichen Sandpisten ein. Auch mir, mit etwas breiterer Bereifung, rutschen oft die Räder weg oder ich sinke ein.

Was aber unangenehmer als der Sand ist, sind die vielen Bodenwellen, etwa 20 oder 30 cm auseinander, die sich anfühlen, als würde ein Presslufthammer meinen Hintern bearbeiten. Mir scheint, als wäre hier ein Bulldozer oder gar ein Panzer über die Strecke gefahren.

Kurze Zeit später treffe ich eine Schweizerin, die ebenfalls durch Huelva gefahren ist und auch auf dem Rückweg ist. Sie ist einmal quer durch Spanien gefahren, und erzählt mir die Strecken sein dort sehr schön und ruhig. Das ist natürlich gut, wenn ich mich entschließe, mittig durch Spanien zurückzuradeln. Geregnet und gewittert hat es erstmal nicht mehr, der Himmel ist aber bedeckt.

19:00

Eben bin ich bei Patricio angekommen. Mit einem kleinen weißen Opel, der schon bessere Tage erlebt hat, holt mich Patricio im nahe gelegenen Dorf ab. Er fährt vor, ich folge mit dem Rad.

Wir fahren eine steinige Abfahrt hinunter, und stehen dann vor Patricios Haus. Das Haus grenzt direkt an bewaldete Berge an, wobei der Wald hier unten im Süden eher einem Buschland gleicht.

Ein befreundetes Ehepaar ist zu Gast, Pedro und Paula. Die beiden sind echte Weltreisende und haben bereits 88 Länder besucht.

Pedro relativiert das aber gleich, als er erzählt, wie er im Kosovo einen Amerikaner getroffen habe, der bereits in 152 Ländern war. „Der Pass war so dick wie ein Buch“, erzählt er mir. „Die Amerikaner können nämlich einfach zusätzliche Seiten für den Pass beantragen. Da bin ich erstmal blass vor Neid geworden“, erzählt Pedro. (Diese Regelung wurde 2016 aufgehoben, jetzt kann man nur bei Beantragung zwischen einem „frequent traveller passport“ mit 52 Seiten und dem normalen Reisepass mit 28 Seiten wählen, nachträglich vergrößern geht nicht mehr)

Wir unterhalten uns zu viert bei einer traditionellen Tintenfischsuppe und Süßkartoffeln aus dem Ofen. Pedro und Paula haben schon echt verrückte Reisen gemacht.

Zu Beginn des Bürgerkriegs in Libyen ist Pedro hingeflogen. „Am Anfang eines Krieges ist es immer am sichersten“, erzählt er. „Da weiß noch keiner, was Sache ist.“

Mit einer bewaffneten Eskorte ist Pedro 600 km durch Libyen gefahren. „Als wir einmal anhalten mussten, um zu tanken“, erzählt Pedro, „wurden wir von bewaffneten Männern umzingelt. Ich dachte schon mein letztes Stündchen hat geschlagen. Sie haben uns aber weiter gelassen, sonst wäre ich ja nicht hier. Das war ein Hochgefühl, dem Tod so von der Schippe zu springen.“

Als auf den kanarischen Inseln der Vulkan ausgebrochen ist, sind Pedro und Paula natürlich auch ins nächste Flugzeug gestiegen. Sie zeigen mir Fotos von der Lavapracht, auf denen zu ahnen ist, wie der Vulkan feuriges Gestein weit in den Himmel spukt. „Überall, auch Kilometer von dem Vulkan entfernt, lag später seidig schwarze Asche.“

„Im März wollte Pedro in die Ukraine“, sagt Paula noch. „Aber ich wollte nicht mit und dann ist er doch hiergeblieben.“

Pedro meint darauf: „Ich bereue es, nicht gegangen zu sein. Wer weiß, wann die nächste Gelegenheit kommt?“

„Was war denn das Verrückteste, was du jemals gemacht hast?“, will ich wissen.

„Das war tatsächlich nicht, als ich in irgendein Kriegsgebiet reiste. Sondern auf der Insel Komodo, wo ich mich ganz nah an einen Komodowaran angeschlichen habe. Fast hat er mich erwischt – Das war die größte Dummheit in meinem Leben! Beinahe bin ich auf dem Friedhof gelandet.“

„Immer wenn wir unterwegs sind, suchen wir übrigens auch die Friedhöfe auf. Das ist echt faszinierend. Der Umgang mit dem Tod sagt viel über den Umgang mit dem Leben aus.“

Pedro holt seinen iPad, und zeigt uns Bilder vom Friedhof in Bologna, wo die Maserati Familie begraben ist. „Die Leichenwagen sind dort Maseratis“, sagt er, und beweist es mit einem Bild.

„Der Hauptfriedhof in London ist auch Grandios“, sagt Pedro. „Da habe ich gelernt, dass Karl Marx zusammen mit seiner Frau und seiner Geliebten im gleichen Grab liegt.“

„In Indien haben wir aber die interessanteste Vorstellung von Leben und Tod entdeckt“, erzählt Paula. „Dort gibt es einen riesigen Tempel, wo die Menschen glauben, dass ihre Vorfahren als Mäuse wiedergeboren werden. Überall in dem Tempel wimmelt es nur von Mäusen. Nicht sehr sauber, aber trotzdem geht jeder barfuß. Man hat dort sogar Schutznetze gegen Vögel und Katzen installiert!“

Auf einem einzigen Bild, das Pedro uns zeigt, sind über 100 Mäuse zu sehen.

„Das ist ja wie bei Ratatouille“, sage ich.

Paula antwortet: „Ja, aber nicht so süß!“

Heute Abend waren Patricio und ich die Zuhörer: mit ihren Reisegeschichten haben uns Pedro und Paula bestens unterhalten – Auch wenn die beiden soooo viel geredet haben, dass Patricio und ich fast gar nicht zu Wort kommen konnten!

Ich werde jetzt bestimmt von Mäusen träumen. Gute Nacht!

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