Tag 88: Schwimmen, eine Frage des Erfolges und “Superhumans”

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Heute sind wir früher aufgestanden, denn Alexa muss um 11 Uhr den Bus nach Lissabon nehmen. Vorher wollen wir aber nochmal zum Strand.

Dort angekommen springen wir gleich ins kühle Nass – aber nicht zu tief, denn der Wellengang ist beachtlich und Alexa kann nicht schwimmen. Ich surfe mit meinem Körper auf den Wellen und versuche den perfekten Moment zu erwischen, wo die Welle mich von sich aus beschleunigt und viele Meter in Richtung Strand schießen lässt. Ein paar Mal gelingt es mir auch, diesen Moment zu erwischen.

Auf der kurzen Rückfahrt gehen mir einige Fragen durch den Kopf, die mir Alexa in den letzten beiden Tagen gestellt hat. Alexa hat mir nämlich alle möglichen Fragen gestellt, über die es sich lohnt, mal nachzudenken.

Heute Morgen fragte sie mich zum Beispiel: „Was denkst du, wenn du aufwachst?“

Alexa erzählte mir, dass sie Dankbarkeit empfindet. Dankbarkeit, dass sie einen weiteren Tag erlebt. „Es sterben ja so viele Leute im Schlaf, dass ich jedes Mal dankbar bin, wohlbehalten aufzuwachen!“

Dankbarkeit ist wichtig und unterschätzt, denke ich. Mit Dankbarkeit ist ein kurzes Innehalten und Reflektieren verbunden, und man bringt Wertschätzung für vermutliche Selbstverständlichkeiten auf.

Das wirklich Selbstverständliche verliert seinen Wert, weil Wert durch Seltenheit entsteht. Was selbstverständlich ist, ist nicht selten, sondern immer da – und verliert dadurch seinen Wert. Dabei ist das, was wir für gegeben hinnehmen vielleicht in Wirklichkeit alles andere als selbstverständlich, und deshalb wertvoll.

Mir selbst ist übrigens kein Gedanke eingefallen, der mir immer am frühen Morgen durch den Kopf huscht. Am Morgen ist der Kopf meistens schön „leer“. Meistens denke ich nur: „Was! Schon wieder morgen? Ich habe geschlafen wie ein Baby!“

Ich liege nach dem Aufwachen meistens faul rum, und lausche den Geräuschen meiner Umgebung. Ich versuche die Welt um mich herum nur anhand der Töne zu rekonstruieren.

Ich werde aber mal in den nächsten Wochen darauf achten, was mir frühs so durch den Kopf geht.

Alexa fragte mich auch: „Was ist für dich Erfolg? – Wäre zum Beispiel Tellerwaschen für dich Erfolg?“

Ihre zweite Frage beantwortet Alexa gleich aus ihrer Perspektive.

„Für mich ist es das. Das war mein erster Job, Eigenständigkeit! Was war das toll! Für die meisten ist Tellerwaschen eine Mistarbeit, aber ich war unendlich stolz.“

„Das ist ja eine Geschichte, wie der Beginn vom amerikanischen Traum“, sage ich. „Erfolg ist relativ. In dem Land der Blinden ist der einäugige König. Genauso ist im Land der Arbeitslosen der Tellerwäscher der Gipfel des Erfolgs. In unserer Gesellschaft, mit den hiesigen Erfolgsnormen würden die meisten Menschen wahrscheinlich sagen, dass für jemanden mit deinen Fähigkeiten, Teller zu waschen kein großer Erfolg ist.“

„Erfolg“, sage ich zu Alexa, „habe ich für mich, wenn ich in den Spiegel schaue und mir sagen kann ‚Ich bin stolz darauf, was ich tue‘. Ich fühle mich erfolgreich, wenn ich das Gefühl habe, das Beste aus mir und meinen Umständen herausgeholt zu haben. Noch besser finde ich es, wenn zusätzlich noch die Menschen, die mir etwas bedeuten, sagen können: ‚Wir sind stolz auf dich!‘“

„Für mich ist es außerdem hilfreich, zwischen äußerem objektivem Erfolg und innerem Erfolg zu unterscheiden. Was ich gerade erzählt habe, ist mein inneres, subjektives Maß für Erfolg. Objektiv ist man aber erst erfolgreich, wenn dir etwas messbar besser gelingt als jemand anderem, mit man gemessen wird. Etwa beim Sport.“

Das, was gelingt, kann dabei positiv oder negativ sein. Einige sind zum Beispiel sehr erfolgreich unglücklich. Meistens verbinden wir Erfolg aber mit positiv bewerteten Ergebnissen.

Das grundlegende Merkmal von objektivem Erfolg ist sein Rangordnungs-Charakter: Er lässt sich nur in Relation zu anderen Leistungen bestimmen.

Subjektiv erfolgreich ist man hingegen, wenn man sich erfolgreich fühlt, unabhängig vom äußeren Vergleich.

Natürlich ist die Trennung zwischen inneren und äußeren Erfolgsvorstellungen schwierig! Sie prägen sich gegenseitig, und nicht immer ist Harmonie gegeben, wie Alexas Beispiel mit dem Tellerwaschen zeigt. Für sie ein Erfolg, für das Umfeld eine Enttäuschung.

Eine weiterführende Frage wäre also: Was passiert zum Beispiel, wenn die eigenen Vorstellungen von Erfolg und nicht mit denen des Umfeldes übereinstimmen?

Fest steht: es wird unangenehm. Psychologen nennen das eine kognitive Dissonanz (nach Leon Festinger), ein Zustand, der großen Stress bereitet.

Um eine solche Dissonanz aufzulösen, sind wir bereit Erstaunliches zu tun. Es ist einfacher, sich selbst zu belügen, als Dissonanzen bestehen zu lassen. Einen Zustand andauernder Spannung kann kein Mensch aushalten, ohne daran zu zerbrechen.

Die schwächere Seite einer Dissonanz gibt nach, genauso wie die schwächere tektonische Platte bei einem Erdbeben nachgibt. Wenn die eigene Vorstellung von Erfolg die schwächere Seite ist, heißt das, man fügt sich den Erwartungen der anderen und schlägt einen Weg ein, der diesem Erfolgsverständnis gerecht wird.

Die eigenen Vorstellungen werden unter den Tisch gekehrt, ausgeblendet oder durch Selbsttäuschung überdeckt à la „Das Andere wäre bestimmt nichts geworden. Es ist besser so…“

Die Theorie der Dissonanzen kann übrigens auch helfen zu erklären, warum Menschen im Krieg Gräueltaten ausblenden können. Was dort erlebt wurde ist schlichtweg unvereinbar, mit der Person, die man sonst ist und die die anderen auch kennen. Diese Dissonanz lässt sich am leichtesten auflösen, indem man schweigt, ausblendet, rechtfertigt „die anderen könnten es sowieso nicht verstehen…“

Es besteht allerdings immer die Gefahr, dass irgendwann die versenkte Leiche wieder an die Oberfläche schwimmt…und dann noch viel gruseliger ist als an dem Tag, wo sie unter der Oberfläche verschwand. Altlasten sind nie „wirklich“ weg, nur unterschiedlich gut begraben.

Wenn Leute also sagen, dass eine große Tour der Selbstfindung dient, dann ist ein Teil dessen, Altlasten auszugraben und seine eigenen Wünsche zu verorten gegenüber den Vorstellungen anderer.

Manchmal bemerkt man erst so bestimmte Dissonanzen. Nicht selten stellen Leute plötzlich ihr ganzes Leben auf den Kopf. Ich denke hier zum Beispiel an Jordi aus Ponts in den Pyrenäen, der vom Börsenmakler zum Weltreisenden wurde.

14:00

Um 14:00 Uhr mache ich mich auf zu einer langen Wanderung entlang der Klippen. Keine Menschenseele ist unterwegs, alle sind unten am Strand. Hier oben gibt es nur mich und die Möwen, die akrobatisch durch die Lüfte segeln.

Nach drei Stunden komme ich wieder bei Josef an. Josef erzählt mir über seinen Beruf als Molekularbiologe an der Universität Heidelberg. „Ich habe meine Arbeit geliebt! In den letzten Jahren seit der Rente habe ich mich aber etwas ausgeklinkt aus den neusten Ergebnissen. Ich bin mir aber relativ sicher, dass einer der großen technologischen Sprünge in den nächsten Jahren sein wird, systematisch mithilfe von Genscheren in das menschliche Genom einzugreifen, um bestimmte Krankheiten zu verhindern und vorteilhafte Eigenschaften hervorzubringen. Ich glaube China wird hier der Erste sein.“

„Wie steht Deutschland denn da, im Vergleich zu den USA oder China?“, frage ich.

Josef erzählt: „Wir haben sehr hohe ethische Standards, aber die richtungsweisende Forschung kommt am häufigsten aus den USA und immer öfter auch China. Wir sind natürlich immer noch sehr gut, nur nicht mehr die absolute Weltspitze. Letztlich ist es eine Frage des Geldes. Und in den USA oder China werden einfach größere Beträge in die Hand genommen. Die haben erkannt, dieses Feld wächst enorm. Auch in Heidelberg: früher waren wir dort ein paar 100 Wissenschaftler, jetzt sind es viele 1000 nur an meinem Institut.“

Ich bin gespannt, ob, und wenn ja, wann die ersten „Superhumans“ auf dem Planet wandeln. Vielleicht werden wir ja unsere Umweltprobleme gar nicht lösen, sondern einfach unsere Anpassung an die neue Umwelt mit der neuesten Forschung beschleunigen…

Was die unvorhersehbaren Konsequenzen wohl sind?

Josef geht früh ins Bett, und ich telefoniere noch vier Stunden durch die Gegend. Gegen 1:00 Uhr nachts hau ich mich dann aber auch aufs Ohr. Gute Nacht!

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