Tag 94: Überfahrt nach Spanien und eine verspätete Ankunft

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Gegen 9:30 Uhr gehe ich mit Lilian und Ewan eine kleine Runde joggen. Julie und Anastasia versprechen uns, in der Wohnung zu bleiben und uns wieder die Tür zu öffnen.

Als wir allerdings um zehn zurückkommen, klopfen wir vergeblich an der Tür. Da hat wohl jemand ein Goldfischgedächtnis… – und damit tue ich wahrscheinlich den Goldfischen unrecht (Forscher haben herausgefunden, dass sich Goldfische bestimmte Gegenstände für bis zu drei Monate merken können). Ihr Versprechen haben sie aber offensichtlich vergessen.

Aber wo stecken Sie? Wir gehen in den Park und setzen uns wie drei alte Opas auf die Bank. Hat die Vermieterin vielleicht etwas gemacht? Womöglich den Code für die Haustür verändert? Sie war ja nicht sehr entzückt, als gestern statt der gebuchten zwei Personen plötzlich fünf im Eingang standen. Zwar war die Vermieterin nicht persönlich vor Ort, doch über die Videokamera konnte sie uns ja sehen.

Nach einer halben Stunde versuchen wir es noch mal am Haus. Immer noch keine Regung. Wir beschließen ein bisschen weiter zu spazieren, als uns plötzlich zwei bekannte Gesichter, Julie und Anastasia, auf dem Fahrrad entgegenkommen.

Die Rucksäcke auf ihrem Rücken sind prall gefüllt mit Essen fürs Frühstück. Deswegen war also keiner da! Mit der Aussicht auf ein gutes Frühstück ist der Ärger verflogen wie Nebel im Wind.

14:30

Ich stehe auf der Fähre nach Spanien. Es geht auf die andere Seite des Grenzflusses Guadiana, der das südliche Portugal von Spanien trennt.

Der Motor brummt, die Sonne knallt – aber ich befinde mich im Schatten und lehne mich ans kühle Metall an. Jetzt wird die Rampe hochgezogen – es geht los! Tschüss Portugal! Hallo Spanien!

19:00

Ich hatte mit Hugo, meinem Gastgeber in Huelva, abgesprochen um 18:00 Uhr da zu sein. Allerdings machen mir zwei Dinge einen Strich durch die Rechnung.

Einmal, dass ich die Zeitumstellung zwischen Portugal und Spanien vergessen hatte. Zum anderen aber ein Fahrradweg, der keiner ist.

Ich muss mein Fahrrad unter dichtem Dornengestrüpp hindurchschieben, versinke im Sand, und mit jedem Meter wird der Weg nicht besser, sondern schlimmer. Drei Kilometer schiebe ich schon, als ich mir eingestehen muss, dass es aussichtslos ist. Ich mache kehrt und stapfe, laut vor mich her schimpfend, zurück. Ein versteckter Beobachter hätte mich für einen Wahnsinnigen gehalten. Es ist ein Moment wie ich ihn zuletzt im Schwarzwald hatte. Damals schob ich mein Fahrrad durch tiefen, matschigen Schnee, heute schiebe ich es durch heißen, zähen Sand.

Meine Emotionen aber sind genau identisch: ich koche vor Wut. Aber es nützt ja nichts, und außer laut vor mich her zu schimpfen, oder dem ein oder anderen Busch einen saftigen Tritt zu geben, habe ich kein Ventil. Unter einer Brücke lehne ich total verschwitzt mein Fahrrad an und entscheide mich, das Gepäck einzeln die steile Böschung hochzutragen und dann auf der Straße über mir weiterzufahren. So kann ich mir noch mindestens zwei weitere Kilometer schieben sparen.

Ich klettere also die Brückenböschung hoch, rutsche dabei aber fast aus. Fast stürzte ich samt meinem Fahrrad wieder nach unten. Meine Wut ist auf einen Schlag vergessen und durch pures Adrenalin ersetzt. Ich atme heftig aus, schüttele den Kopf und trage dann das Gepäck hoch. Oben montiere ich alles wieder ans Fahrrad und mache Tempo in Richtung Hugos Haus.

Um 19:30 Uhr stehe ich vor der Eingangspforte, die zu einem amerikanisch anmutenden Anwesen führt. Der Garten, wie eine große Parklandschaft, und das Haus, das ein wenig an ein kleines Schloss erinnert, passen gut zusammen.

Hugo ist ein großer Mann, kräftig gebaut mit der Statur eines Rugby-Spielers. Er umarmt mich und bietet mir gleich ein kaltes Bier an. Hugos Frau, Elena, wirft sofort meine dreckigen Klamotten in die Wäsche und ich fühle mich innerhalb kürzester Zeit zu Hause.

Hugo kennt das Reisen sehr gut. Ursprünglich kommt er aus Argentinien und fing mit 16 Jahren an seine die dreimonatigen Sommerferien zu nutzen, um Südamerika mit dem Fahrrad zu entdecken. Bis heute hat Hugo 63 Länder mit dem Fahrrad oder dem Motorrad bereist.

Fünf Jahre war er nur mit dem Fahrrad unterwegs, zusammen mit einem Freund und einer Videokamera. Nach einem Jahr schickte er seine Aufnahmen ans spanische Fernsehen („Ich wollte einfach mal schauen was passiert“), die sich begeistert zeigten, und gleich mehr Episoden veröffentlichen wollten. So wurde aus seinem einem Sabbatjahr, eine Weltreise von fünf Jahren. Das war 2005.

„2018 habe ich eine Weltumrundung in 80 Tagen mit dem Motorrad gemacht“, erzählt mir Hugo. „In meiner Studentenzeit spielte ich Rugby, und zertrümmert mir dabei auf beiden Seiten die Oberschenkelhalsknochen.“

„Das Draufgängertum hat er immer noch“, scherzt Elena und gibt Hugo einen kleinen Stupser. Hugo muss lachen und erzählt weiter: „Die Verletzung machte sich in den letzten Jahren stark bemerkbar, aber weil das Knochenmaterial zu schwach ist, können bei mir keine Prothesen eingesetzt werden.“

„Ich wusste aber von einer innovativen neuen Therapie mithilfe von Stammzellen, die in Frankreich getestet wurde, und entschied mich diesem Verfahren zu unterziehen.“

Körpereigene Stammzellen können jede Gewebeform annehmen und so helfen beschädigtes Gewebe zu rekonstruieren. Sie werden in der Regel aus dem Knochenmark entnommen.

„Mithilfe von meinen Stammzellen, haben wir es geschafft, meine Oberschenkelknochen so weit zu regenerieren, dass sie wieder fast normal funktionieren. Mit meiner Motorradtour wollte ich Spenden sammeln, um die Forschung an der Stammzellen Therapie zu unterstützen. Insgesamt sind 1,2 Millionen € zusammengekommen!“

„Das ist wirklich beeindruckend“, sage ich anerkennend.

„Es geht aber nur, wenn man auch große Spender hat. Zwei große Konzerne haben zum Beispiel jeweils über 100.000 € gespendet.“

Hugo erzählt an dem Abend noch viele spannende Geschichten, die von Orientierungslosigkeit mitten in der Sahara, Halluzinationen im Atlasgebirge in Marokko bis hin zu mongolischen Delikatessen reichen. Was Hugo mit Delikatesse meint ist folgendes: Rohe Gelatine, aus Tierhufen gemacht.

„Es ist dort üblich, das zu essen. Und wenn es einem angeboten wird, kann man nicht ablehnen. Aber ich sage dir, das war das ekligste was ich jemals hinunterwürgen musste!“

Ein Glück, dass unser Steak vom Grill 1000-mal besser schmeckt. Ich gehe wohl genährt, mit Essen und Geschichten, schlafen.

Als Weg lässt sich sowas nicht mehr bezeichnen, als Radweg erst recht nicht! Aber es gab auch schöne Abschnitte der Tagestour, die ehemalige Bahnstrecke (siehe Titelbild) war einer davon.

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