Kontraste in der Kneipe

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Von Mariana und Marco in Las Rabonas fahre ich zu Los Túneles.

Ich habe einen Rückenwind, es ist warm aber noch auszuhalten.

Auf der geraden Straße sind überall kleine Heiligenaltare und Bildnisse aufgebaut. In dieser Gegend verehrt die Bevölkerung Cura Brochero, der von 1840 – 1914 lebte.  Auch Mariana wünschte mir bei meiner Abfahrt heute Morgen seinen Segen.

Brochero war Wegebauer und Helfer der Armen und Kranken in der Region Traslasierra und wurde im Jahr 2013 als erste in Argentinien geborene und gestorbene Person zum Heiligen ernannt. Gestorben ist er an der Lepra, die er sich bei der Pflege von Leprakranken selbst zuzog.

Neben einem der Heiligenbilder mache ich eine Pause und esse Kekse mit etwas Honig. Ich will nicht zu viel in den Geschmack des örtlichen Honigs hineininterpretieren, aber er schmeckt doch ein Hauch wie Mate. Und es wachsen wirklich viele Yerba Mate Sträucher in der Gegend, deshalb ist es vielleicht wirklich so, dass der Honig danach schmeckt.

Lucas und Santiago

In dem 80 Seelendorf Las Palmas setze ich mich gegen 18:00 Uhr in eine Kneipe und frage nach Wasser. Plötzlich kommt ein dicker Mann mit langen braunen Haaren und einem Seemannsgesicht hereingesprungen, dreht sich einmal um die eigene Achse und begrüßt alle überschwänglich und mit kleiner Verbeugung. So lerne ich Lucas kennen.

Lucas wird von Santiago begleitet, der allerdings viel zurückhaltender ist.

Der Kneipenbesitzer erzählt, dass ich fünf Sprachen spreche. Als Lucas hört, dass ich auch Englisch spreche, fängt er an mir auf Englisch mit einem Texas-Dialekt seine Lebensgeschichte zu erzählen.

„I messed up“, ich habe es vermasselt. „Deshalb treffen wir uns hier“, erzählt mir Lucas. „Ich habe 15 Jahre lang in den USA in Texas gelebt. Ich habe eine Familie dort, es ist ein schönes Land. Aber auch ein hartes Land.“

Lucas wurde mit Alkohol am Steuer erwischt und plötzlich stand er vor der Wahl. Gefängnis, $10.000 für einen Erziehungskurs, oder ausgewiesen werden. Die $10.000 konnte sich Lucas nicht leisten. Ins Gefängnis wollte er nicht.

Lucas meinte: „Bevor sie mich inhaftieren oder rausschmeißen, gehe ich. Unter meinen eigenen Bedingungen. Das habe ich immer so gemacht, ich bin immer gegangen, wenn etwas nicht gepasst hat.“

Lucas wurde in diesem Dorf geboren und erzählt von seiner Kindheit und seiner Mutter.

„Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, mit acht Geschwistern. Meine Mutter hatte kein eigenes Leben. Sie hat sich den ganzen Tag um uns gekümmert und die restliche Zeit hat sie gebetet. Unser Haus war wie die Kirche im Ort, bei uns haben wir Gottesdienste gefeiert.“

Doch dann veränderte sich Lucas‘ Leben vollkommen.

„Mit 34 hat meine Mutter Krebs bekommen und ist gestorben. Stell dir vor, die gottgefälligste Frau im ganzen Dorf. Hat immer gebetet, hat nur für andere gelebt. Und sie stirbt. Ich verstehe es bis heute nicht.“

Lucas schaut in sein leeres Bierglas und bestellt einen zweiten Liter.

„Ich trinke zu viel“, sagt er nüchtern und zündet sich eine weitere Zigarette an. „Ich trinke, ich rauche – aber ist ja mein Leben, nicht wahr?“

Mich erschüttert diese Gleichgültigkeit irgendwie. Es hört sich an wie eine Kapitulation.

Als Lucas Mutter starb, war er 18 und ist gegangen – erst nach Cordoba und dann nach Amerika.

„Aber Gott ist nicht mehr mit mir gegangen“, sagt Lucas. „Ich verstehe bis heute nicht, wie Gott es zulassen konnte, dass meine Mutter starb, wenn er doch gut sein soll. Und warum gibt es Hunger? Krieg und Elend, warum sterben gute Menschen viel zu früh und Schurken kommen davon? Warum sollen die Christen Recht haben und die andern nicht?“

Dann zeigt Lucas auf Santiago und sagt: „Der hier glaubt noch an Gott“.

Santiago sagt zum ersten Mal etwas und meint, dass Gott damit beschäftigt sei Galaxien und Universen zu erschaffen und dass sich die Menschen schon um sich selbst kümmern müssen.

„Bist du religiös?“, fragt mich Santiago.

„Nein“, sage ich.

Santiago nickt und erzählt: „Vor einigen Jahren ist hier mal ein junger Amerikaner vorbeigekommen mit dem Fahrrad, sah dir sogar ein bisschen ähnlich. Vier Jahre ist er durch Südamerika gefahren und hat Bibelunterricht gegeben. Er war Mormone.“

Lucas erzählt, dass Santiago aus einer reichen Familie komme. „Sieht aber nicht so aus, so wie der rumläuft, haha“.

„Es stimmt“, sagt Santiago, der ein T-Shirt und eine abgenutzte Hose anhat. „Meine Familie, das sind alles Millionäre. Aber keine guten Menschen.“

Santiago hat mit seiner Familie nichts mehr zu tun. Er ist heute Sozialhelfer und meint er sei glücklich mit seinem Leben.

Lucas und Santiago sind schon eine unwirkliche Kombination.

Lucas ist klein und dick, Santiago groß und schlank. Lucas ist Alkoholiker, Santiago rührt Alkohol nicht an. Lucas kommt aus einer armen Familie, Santiago aus einer Unternehmerfamilie. In Lucas Familie zählte nur die Religion, in Santiagos Familie zählte nur das Geld. Und heute ist es umgekehrt: Lucas hat der Religion abgeschworen und Santiago dem Geld.

Doch irgendwie passen die beiden zusammen. Vielleicht gerade weil sie so mit ihrer jeweiligen Vergangenheit gebrochen haben.

Morgen fahre ich übrigens die gleiche Straße wieder zurück, über die ich gekommen bin. Geradeaus warten sonst 100km Wüste bei 50 Grad und ohne Möglichkeit Wasser aufzufüllen, dazu die Sandpisten, die das Radfahren unmöglich machen. Deshalb ist es gut, sich mit den Einheimischen, den „Locals“, zu unterhalten. Auf der Karte sah die Strecke nämlich ok aus.

Manchmal ist ein Schritt zurück in Wirklichkeit ein Schritt nach vorne. Und auch dieselbe Strecke sieht in die andere Richtung fahrend wieder vollkommen anders aus.

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