Tag 116: Vergänglichkeit und Träume

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Ich habe super geschlafen: Keine Mücken, kein Ungeziefer und keine unerträgliche Hitze. Was kann ich mir mehr wünschen?

Um 8 Uhr bin ich wieder auf der Piste. Ich muss nicht mehr so früh los, wie noch in der Extremadura. Es ist zwar warm und beinahe tropisch feucht, aber die Bedingungen sind schon deutlich angenehmer als noch vor einer Woche. Die Sonne ist ebenfalls weniger aggressiv. Wahrscheinlich wird sie durch den feuchten, blassen Dunst, der über allem schwebt, gezähmt.

Ich folge immer weiter der Küste. Um 12 Uhr mache ich eine Pause in einem niedlichen Café. Alles ist gut, nur der bläuliche Zigarettenqualm vom Nachbartisch stört. Ich bin ohnehin erstaunt, wie viel in Spanien geraucht wird. Lange wird man nicht mehr die längste Lebenserwartung in Europa haben…

Ich fahre weiter. Die Strände sind zum Bersten voll – die Tourismussaison ist auf ihrem Zenit. Überall sind bunte Sonnenschirme. Jeder lechzt nach Abkühlung und im Wasser stehen die Urlauber dicht gedrängt.

Dadurch, dass es so feucht ist, komme ich auf den Anstiegen ziemlich ins Schwitzen. Als ich am linken Straßenrand ein Schild „Geopark“ sehe, denke ich, dass ein bisschen wandern nicht schaden kann. Es geht einen steilen Berg hinunter, wo ich gar keine Lust habe, wieder hochzufahren.

Bis zum Strand muss ich etwa 1 km wandern. Sand ist Fehlanzeige: stattdessen geht es über senkrecht beschichtete Steine ins Meer. Wie die Seiten eines Buches ragen die Sedimentschichten in die Höhe. Ich krabbele auf allen vieren über die rutschigen Steine, und wasche im Salzwasser vergnügt meine noch salzigere Haut. Auf den Steinen im Meer wächst buntes Seegras in rötlichen, hell- und dunkelgrünen Farbtönen.

Mir geht eine Sache nicht aus dem Kopf. Tony war wirklich begeistert von meiner Fahrradtour und erzählte mir: „Wenn ich wieder 20 Jahre jünger wäre, würde ich auch eine solche Tour machen.“

Er scheint zu bereuen, dass er nie selbst eine so lange Reise unternommen hat und sagte mir: „Irgendwie habe ich es verpasst, so wie dein Opa mit dem Jakobsweg. Ich erinnere mich, wie er davon sprach von Frankfurt bis nach Compostela zu laufen.“

Tony möchte nicht, dass seinem Sohn das Gleiche passiert.

„Mein Sohn hat seinen Abschluss vorletzte Woche am Freitag bekommen, und er hat direkt am nächsten Montag angefangen zu arbeiten. Ich frage mich, ob das nicht zu früh ist. Ob ihm eine solche Reise nicht auch guttun würde. Jetzt wäre die beste Gelegenheit dafür.“

Ich kann Tony sehr gut verstehen. Das Gefühl, etwas unwiederbringlich verpasst zu haben, muss schmerzhaft sein. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass er seinen Sohn nicht zum Reiseglück zwingen kann.

Der Antrieb muss von innen kommen, denn sonst hätte man gar nicht das Durchhaltevermögen, wenn es mal nicht so gut läuft. Es ist viel einfacher aufzugeben, wenn man einen Sündenbock hat, den man für das Scheitern verantwortlich machen kann. Wer aus eigenem Antrieb auf die Reise geht, hat aber nur sich selbst als Sündenbock. Und kaum etwas schmerzt mehr, als derjenige zu sein, der es verbockt hat! Lieber beißt man sich durch.

Wer „zu seinem Glück gezwungen wurde“, hat immer die Ausrede: „Ich wollte aber eigentlich nicht…“. Das macht das Aufgeben viel einfacher und hat nur noch wenig mit der Selbstverantwortung zu tun, die man auf einer solchen Reise erfahren soll. Reisen geht eben nicht zwangsläufig mit dem Reiseglück einher, man muss die Teile selbst zusammensuchen.

Tony mag also bereuen, selbst nie eine solche Reise unternommen zu haben. Aber sein Sohn müsste schon selbst Initiative ergreifen.

Ein anderes interessantes Gespräch mit Tony ging über das Verhältnis zur Familie.

Tony erzählt von seinem Vater, der ihm sein ganzes Leben nie gesagt hat: „Ich liebe dich.“

Erst nach einem Schlaganfall, halbseitig gelähmt und blind, dem Ende nahe, sagte sein Vater eines Tages mit heiserer Stimme die Worte: „Tony, ich liebe dich.“

Tonys Eltern sind schon beide verstorben, Tony erzählt, wie schade er es findet, dass er nie ihre Stimmen aufgezeichnet hat. Jetzt denkt er manchmal, wie schön es wäre, wieder die Stimme seiner Eltern zu hören.

„Wenn man überlegt“, sagt er, „die Familie ist das wichtigste was wir haben. Und dann besuchen wir sie so wenig. Über viele Jahre habe ich meinen Vater und meine Mutter nur zwei oder dreimal im Jahr besucht. Für ein paar Stunden. Wenn man das hochrechnet, auf all die Jahre: das sind nur ein paar Wochen, die wir zusammen verbracht haben. Und das, mit den wichtigsten Menschen in unserem Leben.“

„Ich würde dir also ans Herz legen, zeichne mal ein paar Gespräche von deinen Großeltern auf. Dass sie von ihrem Leben erzählen. Denn wenn sie eines Tages nicht mehr da sind, dieses ganze Wissen wird verloren sein. Unwiederbringlich. Und eines Tages wirst du dir die Frage stellen: warum habe ich die Gelegenheit nicht genutzt, als ich sie hatte. Es ist ja so einfach mit den Handys heutzutage!“

Tony holt ein Buch hervor, in dem seine Familiengeschichte geschrieben steht. Die Familienmitglieder der letzten drei Generationen werden vorgestellt. Jeder mit seiner Geschichte, Bildern und Zeitungsausschnitten. „Das ist ein wichtiges Dokument“, meint Tony, „um das Wissen der vergangenen Generationen auch für die Zukunft zu erhalten.“

So ist der Lauf der Zeit. Ich radle in den Abend hinein und schaue kurz bei einer Ruderregatta zu.

Auf der Suche nach einem Schlafplatz treffe ich Pia und Simon. Sie kommen aus Graz und Salzburg, und wollten ursprünglich einfach im Norden Spaniens Urlaub machen. Als sie ankamen und einen Decathlon sahen, beschlossen sie kurzerhand sich die Ausrüstung für ein Abschnitt des Caminos zu besorgen.

Heute hat es Pia ganz schön erwischt. Sie ist über einen Stein gestolpert und der Länge nach hingefallen: dabei hat sie sich das Knie aufgeschlagen und eine Beule am Kopf eingefangen.

Leider haben die beiden nur Pflaster dabei, aber kein Wundspray, um die blutende Wunde zu desinfizieren. Ein Glück, dass ich welches hab. Ich habe es auf der Reise noch nicht gebraucht, doch jetzt kann ich endlich behilflich sein. Ich habe das Spray also nicht umsonst mitgeschleppt!

Simon fragt mich, ob ich Tipps gegen Mücken habe. Schön wär’s! Die beiden schlafen meist in einer Hängematte, wo die Mücken echt eine Plage werden können.

Von meinen Geierfedern sind die beiden total begeistert. „Wow“, rufen sie. „Es sieht auch richtig schick aus, total windschnittig Beinahe furchteinflößend. Dir wird jetzt bestimmt keiner mehr so schnell was vormachen!“

Schon bald finde ich einen Schlafplatz. Er ist auf einem Hügel gelegen, mit Blick direkt aufs Meer und in den sagenhaften Sonnenuntergang. Die Farben der Sonne sind so intensiv, dass die Handykamera damit vollkommen überfordert ist.

Ich genieße den Sonnenuntergang im echten Leben und nicht durch die Linse meiner Kamera. Oben auf dem Hügel treffe ich noch zwei Spanier: Irai und Amaya. Zusammen stoßen wir mit einem Becher Baskischen Apfelwein auf den Sonnenuntergang und eine gute Reise an.

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