Tag 106: Berge und Einsamkeit

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6:00

Um 6:00 Uhr ist alles zusammengepackt und ich sitze auf dem Fahrrad. Den ersten Pass auf 1200 m fahre ich noch im Dunkeln hoch, doch als ich oben angekommen bin, begrüßt mich ein zauberhafter Sonnenaufgang.

Heute gibt es insgesamt drei größere Pässe zu überwinden: 1200 m, 1300 m, und der letzte und größte, 1650 m.

Jetzt, wo diese Zeilen entstehen, habe ich die berauschende Abfahrt des letzten Passes gemeistert (Vorsicht: Rollsplitt!).

Auf einer Bank im Schatten esse ich eine köstliche Chorizo Wurst, um den Salzhaushalt halbwegs balanciert zu halten. Insgesamt sind die Temperaturen aber schon deutlich angenehmer als noch vor drei Tagen in der Extremadura.

Ich bin in der letzten Woche durch das Fahrradfahren so ausgelastet gewesen, dass mir sozialer Kontakt nicht gefehlt hat. Abends falle ich so müde auf die Isomatte, dass ich überhaupt keine Energie mehr hätte, noch ein langes Gespräch zu führen.

Ich fahre wieder durch Dörfer, wo sich in den letzten Jahrhunderten nichts verändert hat.

Ich genieße auch diese Facette der Tour: die Einsamkeit in ihrer positiven Seite. Ein – sam. Zusammen mit mir selbst zu sein. Meinen inneren Dialogen zu lauschen.

Und ist es nicht interessant, dass unsere Gedanken wie ein Gespräch mit einer anderen Person strukturiert sind? Dass wir Stimme und Gegenstimme in einem Kopf haben?

Die eine Stimme lanciert einen Vorschlag, die andere beurteilt. Frage – Antwort.

Lauscht mal ganz aufmerksam den Gedanken: ihr werdet finden, dass man sie ohne weiteres als Dialog aufschreiben könnte.

In der Einsamkeit ist dieser Dialog alles, was an menschlichen Stimmen bleibt. Da bleibt zu hoffen, dass der Dialog spannend ist, und wenn nicht, dass die Strecken so herausfordern, dass keine Energie mehr zum Denken bleibt. Die Balance treffe ich im Moment ganz gut.

Ich fahre noch 2 Stunden weiter, bis ich gegen 16:00 Uhr wieder eine Pause einlege. An einem kleinen Fischerhäuschen direkt an einem Fluss, in dem unzählige einkaufswagengroße Granitklötze dem Wasser trotzen, lege ich mich in den Schatten.

Ich gehe schwimmen und wasche Salz und Dreck von der Haut. Der Bergfluss ist angenehm kühl.

Später esse ich einen Kefir mit Müsli. Der Kefir ist mir etwas suspekt, er steht ganz schön unter Druck. Als ich ihn öffne, explodiert er mir förmlich entgegen.

Aber ich denke mir nichts dabei: es wird der Höhenunterschied von immerhin fast 1000m sein, sage ich mir. Und ohnehin, Kefir ist ja fermentierte Milch, was soll da denn noch schlecht werden? Und normal schmecken sowie aussehen tut er auch.

Schon am Abend da merke ich, wie es in meinem Bauch rumort…

Hier verbringe ich die Nacht.

Ein paar Gedanken zur Einsamkeit

Medizinisch ist Einsamkeit als negativer Zustand definiert, doch in der Geschichte war der Begriff keineswegs so einseitig konnotiert. Seit jeher zogen sich große Denker in die Einsamkeit zurück, um ihre Gedanken zu ordnen und große Werke zu erbringen. Einsamkeit hat also durchaus ihre positiven Seiten, weshalb in der Philosophie auch andere Begriffe vorgeschlagen wurden.

Hannah Arendt zum Beispiel ersetzte die negative Komponente der Einsamkeit durch den Begriff der Verlassenheit. Jemand, der eine „schlechte“ Einsamkeit verspürt, fühlt sich verlassen. Verlassen im sozialen Sinne, und verlassen von einem stärkenden inneren Dialog.

Verlassenheit bedeutet nicht nur eine soziale Leere, sondern auch eine innere Leere. Leere statt Lebensfülle. Es gibt in der Leere keine Widerstände, und die Gedanken kreisen endlos, nie zielführend, unbefriedigend, zermürbend. Je länger dieser Zustand anhält, desto mehr schwindet die Selbstachtung. Denn: Wie kann man denn noch das achten, was es gar nicht gibt? Das, was nichts als Leere ist?

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