Tag 14: Ein erster Grenzübertritt – ein neues Land

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Bad Säckingen -> Ein Feld 20km hinter Olten, Schweiz

Nach einem wunderschönen Ruhetag bei meinen Gastgebern Erik und Agnes war heute einmal mehr Radfahren angesagt. Wieder bei voller Kraft und Motivation fahre ich los – gegen 14 Uhr am Nachmittag.

Warum auch nicht? Kilometer sind nicht alles, jedenfalls nicht auf dieser Tour. Ich will mich unterhalten und Ideen sammeln, Neues lernen. Wenn Reisen Lernen sein soll, dann braucht man Zeit, ein gutes Ohr und keine Scheu vor Umwegen.

Bei meinen bisherigen Radtouren bin ich immer früh aufgebrochen. Ich radelte dann 10 oder 12 Stunden, aß und schlief, und wiederholte die ganze Prozedur am nächsten Tag von Neuem. Ruhetage waren mir ein Fremdwort. Natürlich hat es mir dann sehr bald gereicht.

Doch man muss sich nicht so hetzen. Die Reduktion des Bikepacking darauf, möglichst viele Kilometer zu fahren, ist eher ein Zeichen von Einfallslosigkeit. Auf dieser Tour fahre bewusst weniger. Das ist auch eine Erfahrung wert – denn wer nur 6 Stunden am Tag radelt, muss sich noch 6 weitere anders beschäftigen. Und was das erfordert, ist Kreativität.

Im Gegensatz zum normalen Leben, wird die Aufmerksamkeit von sehr viel weniger Quellen beansprucht beim Radreisen. Tatsächlich gibt es oft gar keine oder nur sehr wenige äußere Impulse, sodass man gezwungen wird, selbst für Beschäftigung zu sorgen. Und wenn man das tut, nutzt man die Eigenschaft, die wir Kreativität nennen.

„Creativity is freewheeling intelligence“

Immer wieder hat man aber auch das Glück, beim Radreisen auf wunderbare Menschen zu treffen. Und man hat quasi unendlich viel Zeit sich mit ihnen zu unterhalten.

Da es so wenige Dinge gibt, die die eigene Aufmerksamkeit beanspruchen, kann man sich mit den Dingen, die einem begegnen auch tiefgründig beschäftigen. Der Kopf ist leer und wartet nur darauf gefüttert zu werden. Reisen ist Lernen und Lernen verträgt sich nicht mit Oberflächlichkeit.

Einhellig sind alle meine bisherigen Gastgeber in ihrer Einsicht, dass es bereichernder ist, weniger Kilometer zu radeln. Dafür aber eine Gegend und die Menschen, die man trifft, besser kennenzulernen. Sich treiben lassen. Verweilen, wo es schön ist. Auszukosten. Inhalte und nicht Überschriften zu lesen.

Der langfristige Gewinn aus dieser Art zu reisen ist unendlich viel größer – darüber waren sich alle langjährigen Radreisenden, mit denen ich bisher gesprochen habe, einig.

Und aus genau diesem Grund entschied ich mich heute dagegen, gleich um 8 aufs Fahrrad zu springen und loszufahren. Stattdessen unterhielt ich mich noch lange mit Agnes und Erik. Von ihrer Gastfreundschaft tief beeindruckt, machte ich mich schließlich bei 10 Grad und Wolken auf den Weg.

Als hätten Wind und Regen nur darauf gewartet, dass ich das Haus verlasse, tobte bald ein richtiger Sturm. Mein Weg führte nach etwa einer Stunde durch einen großen Wald. Ich musste mein Fahrrad durch Dornenbüsche schieben, um einen umgestürzten Baum zu umgehen. Hoffentlich bekomme ich keinen Platten, dachte ich mir. Bei Sturm im Wald einen Plattfuß zu flicken, bereitete mir ernsthaft Sorgen. Ich wollte keine Sekunde länger in den Wald verbringen als notwendig.

Überall auf dem steilen Schotterweg lagen abgebrochene Äste herum. Der Wald hörte sich an wie ein rauschender Wasserfall. Die Bäume quietschen und knarzten, und mich überkam ein immer mulmigeres Gefühl.

Immer wieder schaute ich nach oben in die Baumkronen, um mich zu vergewissern, dass kein Ast dabei war abzubrechen.

Ich malte mir aus, wie ich unter einem umgestürzten Baum mit gebrochenen Rücken im Wald lag. Wie es wäre, den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen zu müssen.

Andererseits redete ich mir ein, dass mir solche Gedanken in dieser Situation überhaupt nicht weiterhalfen. Das Kind war in den Brunnen gefallen, als ich mich entschied meinem Navi zu folgen und in den Wald hineinzufahren.

Trotzdem sagte ich mir verärgert, dass man immer für Idiotie bezahlt und, dass der Preis mitunter sehr hoch sein kann.

Als ich endlich aus dem Wald fuhr, überkam mich eine große Erleichterung. Ich machte mir mental eine Notiz, beim nächsten Mal meine Route dem Wetter anzupassen, und mich nicht stur an den Plan zu halten.

Einen Plan allein des Planes willen und entgegen aller Vernunft durchzusetzen, ist meistens das Rezept für ein grandioses Scheitern. Zu jedem Plan gehören gewisse Annahmen über die Zukunft. Wenn sich diese Annahmen aber als unzutreffend erweisen, muss auch der darauf basierende Plan verändert werden. Die Kunst ist zu erkennen, wann es sich lohnt einen Schritt zurückzutreten, um 2 nach vorne gehen.

Hier kommt allerdings der „Status quo bias“ zum Zuge, der diese Entscheidung erschwert. Es ist viel einfacher, den beschlossenen Plan beizubehalten, obwohl das möglicherweise nicht die beste Variante ist. Nicht ohne Grund sagt der Volksmund “ein totes Pferd durchs Ziel reiten”. Wir sind Meister darin, zum Scheitern verurteilte Projekte durchzusetzen entgegen aller Vernunft.  Rational gesehen, hätte ich die Route flexibel an die neuen Wetterumstände anpassen müssen – aber meine Faulheit siegte und ich radelte im Sturm durch den Wald. Faulheit liebt Status Quo.

Aber Ängste und Status quo Bias hin oder her, „I lived to see another day”. Hinter dem Wald ging es eine steile Schotter Piste hinab, die meine Bremsen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte. Dann fuhr ich auf einer glatten Teerstraße nach Olten in der Schweiz, dem Beginn der Jura Südfuß Route.

30 km waren geschafft, dazu stolze 860 Höhenmeter.

Nun fing es allerdings an zu regnen: Erst ganz leicht, dann immer heftiger. Bald peitschte der Wind die Wassertropfen beinahe waagerecht in mein Gesicht.

Schneller als zehn Kilometer in der Stunde kam ich nicht mehr voran. Wie eine unsichtbare Hand drückte der Wind mich zurück.

Nach 20 km mit unablässigem Gegenwind und Regen entschied ich mich, mein Zelt aufzubauen und die Nacht hinter einer Hecke auf einem Feld zu verbringen. Dort war ich immerhin ein wenig gegen den Wind geschützt.

Zum Glück hatte ich die Zutaten für ein köstliches Abendessen. Reste vom Vortag und sogar einen Nachtisch. Agnes selbstgemachtes Mousse au Chocolat!

Ein solches Festmahl entschädigt doppelt und dreifach für einen verregneten, stürmischen ersten Tag in der Schweiz. Gutes Essen – gutes Leben. Egal, was das Wetter macht.

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