Tag 74: Lissabon und eine klebrige Angelegenheit

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Die Nacht habe ich gut geschlafen, mich weckt der Sonnenschein. Das Zelt heizt sich mit jeder Minute mehr auf, und ähnelt langsam einem tropischen Gewächshaus. Der Duft der Eukalyptusbäume strömt ins Zelt, und erinnert mich an eine Creme, die ich mir bei Husten oder Halsschmerzen auf die Haut reibe.

Ich habe keine Uhr dabei, doch ich schätze, dass es etwa 10:00 Uhr morgens sein muss. Die Kiefern und Eukalyptusbäume liefern nur wenig Schatten, sodass der Boden und mein Zelt erbarmungslos den Strahlen der Sonne ausgesetzt sind. Bevor es noch wärmer wird, packe ich Schlafsack und Isomatte zusammen. Meine Taschen habe ich am Fahrrad gelassen, welches ich noch in der Dämmerung an eine der Pinien angelehnt hatte.

Mit den gepackten Sachen laufe ich zum Fahrrad, und festige sie mit meinem mittlerweile ordentlich ramponierten Gummiseil. Voller Tatendrang packe ich mein Fahrrad, um aufzusteigen. Nur tut sich nichts. Mein Fahrrad klebt am Baum! Wie kann das denn sein?

An dem Baum klafft eine große Wunde, wo die Rinde entfernt wurde und ein Trichter das Hartz sammelt. An allen Kiefern sind ähnliche Vorrichtungen angebracht, die, wie mir meine Tante Rita später erzählt, Harz für die Zuckergewinnung sammeln. So wie unsere Wunden bluten, bluten auch die Kiefern und ich habe in der Dunkelheit mein Fahrrad direkt an die harzende Wunde angelehnt. Wer schon mal Harz an seiner Hand hatte weiß: das Zeug ist hartnäckig!

Doch ich bin entschlossen, mein Fahrrad nicht den klebrigen Klauen des Baumes zu überlassen. Mit einem gewaltigen ruck reiße ich mein geliebtes Fahrrad los. Es löst sich mit einem Ton ab, als würde man Pappe zerreißen. An meiner Ortlieb-Tasche klebt jetzt eine ordentliche Harzschicht, aber mein Fahrrad gehört wieder mir. Los geht’s also!

Ich fahre durch kleine Küstendörfer. Überall sind die Fenster geöffnet, um die Meeresbrise hineinzulassen. In einer Wohnung arbeiten Handwerker, mir schalt die Stimme von Freddie Mercury entgegen: „We are the Champions!“ In meinem Kopf habe ich aber einen anderen Ohrwurm, und ich singe ständig „Vamos à la Playa“. Dieses Lied lief im Radio, als wir in Barcelona nach Tossa de Mar fuhren. Nun blicke ich aber nicht mehr auf das Mittelmeer, sondern den Atlantik.

Nach 40 km am Meer, biege ich ins Hinterland ab. Jetzt wird es hügelig. Ich komme an einem hübschen Dorf vorbei, das von einer Stadtmauer umringt wird. Ich notiere mir den Namen: Óbidos.

Die Häuser sind weiß gestrichen, mit rötlichen Ziegeldächern. Immer wieder wurden die Wände in einem tiefen blau ergänzt, so dass manche Häuser Griechenland entsprungen zu sein scheinen. Mein Fahrrad lehne ich an die Stadtmauer, auf der ich einmal um den Ort laufe.

Auf der Mauer sind einige Touristen unterwegs, die meisten davon Amerikaner. Die kostet der Mauer-Spaziergang ordentlich Überwindung, denn es gibt kein Geländer und dem unaufmerksamen droht ein Sturz von 5 m bei einem falschen Schritt. Mit Flip-Flops und angesichts der unebenen Steine eine realistische Gefahr für viele. Mit den Rücken an die Brüstung gepresst, schleicht so mancher Amerikaner um die Festung. Das hat nichts mehr mit „The Land of the Free, the Home of the Brave“ zu tun!

Wir gewöhnen uns schnell an neue Sicherheiten, unsere Komfortzone verschiebt sich. Und ein fettgemästetes Sicherheitsbedürfnis wieder abzuspecken ist genauso schwierig, wie den Schwimmring an der Hüfte loszuwerden. Sicherlich trägt in den USA auch die Sorge vor Klagen (juristischer Art) zum übermäßigen Sicherheitsbedürfnis vieler bei.

Auf der Mauer treffe ich eine Familie aus Florida. Als ich erzähle, dass ich acht Jahre in Wisconsin gelebt habe, rufen Sie: „You must be a Green Bay Packers fan then! Boooo! We‘re Buccaneers fans.“

Die Familie ist aber nicht nur Football begeistert, sondern fährt auch gerne Fahrrad. Sie erzählte mir, dass gerade viele alte Eisenbahnlinien zu Radwegen gemacht werden. Die so entstandenen Strecken nennt man dort „Railtrails“ oder „Gravelgrind“. „Nennt ihr die hier auch Railtrail?“, ist die Familie neugierig.

Ich muss lachen und verkneife mir einen sarkastischen Kommentar. Stehe ich hier vor einem Fall, wo Amerikaner eine atemberaubende Abstinenz von Wissen über Europa an den Tag legen? Ich fühle mich an den Mann aus Brüssel erinnert, der mir auf dem Jakobsweg von „vollkommen ignoranten“ Amerikanern erzählte, die dachten Englisch sei in Europa Amtssprache.

Jedenfalls ist es so: Amerika hat zwar einige Anglizismen exportiert, doch „Railtrail“ hat es noch nicht über den Ozean geschafft. Hier in Portugal heißen solche Strecken „Ecovia“.

Ich verlasse das portugiesische Rothenburg und fahre noch einige Stunden weiter, bis in den Abend hinein. Zwar zeigt mein Navi bereits über 100 km Fahrstrecke für heute an, doch zu Mário und Rita in Lissabon fehlen mir nur noch 30 km und deshalb entschließe ich mich weiterzufahren.

Ohne Handy kann ich Ihnen leider nicht mitteilen, dass ich einen Tag früher ankomme, als geplant. Um 21:00 Uhr stehe ich an der richtigen Straße, aber ich finde einfach nicht die Adresse! Wo ist die Hausnummer sechs?

Endlich finde ich Leute, die mir helfen können. Ich klingele an der richtigen Tür, aber vergeblich. Vielleicht ist die Klinge ja kaputt? Eine Frau, die das Gebäude verlässt, lässt mich in den Eingangsbereich. Mit dem Aufzug fahre ich zur Wohnung und klingele noch einmal. Alles ist still. Bestimmt sind Rita und Mário weg.

Jetzt ärgere ich mich das erste Mal wirklich, dass ich kein Handy habe. Und Telefonzellen gibt es ja auch nicht mehr… Ich klingele bei den Nachbarn in der Hoffnung, dass ich vielleicht über ihr Telefon meine Großtante erreichen kann. Doch ich glaube ich wirke etwas abschreckend, mit verschwitzten Haaren, dem Dreck, der an der Haut klebt, und meinem weißen Fahrrad T-Shirt, auf dem sich dunkle Flecken abzeichnen.

Darüber hinaus versteht die alte Dame, die mir öffnet, weder Englisch, Spanisch oder Französisch. Ich versuche es einen Stock tiefer. Gerade habe ich die Klingel gedrückt, als ein Signalton erklingt und ein Mann vom Sicherheitsdienst aus dem Aufzug schreitet. „Was machst du hier?“, fragt er mich. Ich erkläre die Situation und der beruhigte Wachmann bietet mir sogar sein Handy an, um zu telefonieren.

Doch gerade in dem Moment, wo ich die Nummer eingeben habe, erscheinen Rita und Mário! Wir umarmen uns herzlich und als wir uns voneinander lösen ist die letzte halbe Stunde bereits vergessen. Ich bin in Lissabon! 4000 km sind geschafft, weitere 4000 gilt es noch zu überwinden.

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