An die Nacht kann ich mich nicht erinnern, und das ist ein gutes Zeichen. Als ich morgens aus dem Zelt klettere, kondensiert mein Atem an der kalten Luft. Auf 1200 m über dem Meeresspiegel ist das auch in Spanien schon mal möglich.
Die 30 km nach Burgos vergehen wie im Flug. Burgos hat eine hübsche Altstadt und eine prunkvolle Kathedrale. Man merkt, dass hier einst der Sitz der Mächtigen war.
Ab Burgos fahre ich auf dem Camino de Santiago, der fast ausschließlich auf Schotterwegen entlangführt. Zwar führen diese gelegentlich an Bundesstraßen entlang, doch man hat immer genügend Abstand zu den Autos. Einige Kilometer hinter Burgos verlässt die Schotterpiste die Bundesstraße und führt über eine wellige Hügellandschaft durch weitläufige Felder. Plötzlich sehe ich auch wieder Pilger – bestimmt haben einige die unattraktiveren Streckenabschnitte kurz vor und hinter Burgos mit dem Bus abgekürzt.
Nach etwa 20 km auf dem Jakobsweg entscheide ich, dass es Zeit ist mein Frühstück nachzuholen. Ich setze mich auf einen erhobenen Felsen mit Blick über die weitläufigen Weizenfelder. Ich esse Haferflocken mit Joghurt, Marmelade und Nüssen. Der Wind ist ganz schön frisch und mein Körper ist schon steif vor Kälte, als ich wieder aufs Rad steige.
Da kommt Ivan wie gerufen. Ivan ist etwas leichter unterwegs als ich, und fährt auf einem Carbon-Mountainbike, wie ich es mir sofort in die Garage stellen würde. Ivan ist neugierig, woher ich komme. Als ich ihm erzähle, dass ich seit acht Wochen unterwegs bin und von Deutschland alles mit dem Fahrrad zurückgelegt habe, sagt Ivan erstaunt: „Was! Du bist ja verrückt!“
Ich gebe zu, ein bisschen verrückt ist das für einen Außenstehenden schon. Allein schon die Vorstellung, zwei Monate zu reisen.
„Ich habe ein bisschen Zeitdruck“, erzählt mir Ivan. „Ich habe nämlich nur 8 Tage Urlaub, und will in der Zeit bis nach Santiago de Compostela kommen.“
„Das sind ja 120 km am Tag“, sage ich.
„Ja, heute ist ein etwas längerer Tag. 140km insgesamt. Die ersten 100 sind schon geschafft.“
Ivan macht ordentlich Tempo, und so wird mir auch schnell wieder warm.
„Wie alt bist du?“, fragt mich Ivan.
Als ich sage, dass ich 21 bin, meint Ivan: „Du könntest ja fast mein Sohn sein. Der ist 18.“
„Aha, genau zwischen meinen beiden Brüdern. Die sind 17 und 19.“
„Mit einer Familie und der Arbeit ist es viel schwieriger einen Urlaub wie du ihn machst zu realisieren. Für mich ist es eigentlich unmöglich, deshalb muss ich mit meinen 8 Tagen das Beste draus machen! Nutz die Zeit, irgendwann ergeht es dir wie mir!“, lacht Ivan.
Tja, ja, da fühle ich mich ja bestärkt…
„Wo arbeitest du?“, frage ich Ivan.
„Ich arbeite für Arriva. Kennst du das?“
„Ja klar, ich habe in Maastricht studiert und dort wurden alle Züge und Busse von euch betrieben.“
„Du kennst dich aus. Richtig, wir sind eine Tochtergesellschaft von der Deutschen Bahn. Ich komme aus Madrid und dort bin ich auch Busfahrer.“
„Da trifft man bestimmt viele Menschen“, sage ich.
„Ja, das stimmt, ich kenne meine Kunden. Das Schöne ist aber, dass ich beim Fahren immer Podcasts und Audiobücher anhören kann.“
„Super! Was für Themenbereiche interessieren dich so?“
„Oh, zum Beispiel die Geschichte des Caminos. Das ist total interessant, wenn man mal in die Zeit der Banditen und Tempelritter abtaucht, als es hier noch richtig heiß her ging. Weißt du, mit jedem Mal, wo man den Camino macht, entdeckt man neue Facetten, die ihn nur noch interessanter machen.“
„Das heißt du hast den Camino schon mehrmals gemacht?“, frage ich.
„Ja, das ist jetzt mein viertes Mal.“
Nicht schlecht. So kommt es auch, dass Ivan mir immer wieder an besonderen Orten erklären kann, was dort geschah. Ich freue mich, dass ich Begleitung habe und Spanisch reden kann und Ivan ist ein enthusiastischer Fremdenführer. So erzählt mir Ivan, dass die Tempelritter früher eine Schutztruppe für die Pilger auf dem Jakobsweg waren.
Auch für das aktuelle Weltgeschehen interessiert sich Ivan. Wir fahren an einem Feld vorbei, wo die Landwirte eifrig damit beschäftigt sind zu pflügen.
„Wegen des Ukraine Kriegs sind ja die Getreidepreise so hoch, und man kann viel weniger Getreide importieren. Deshalb wird gerade geackert, um zusätzliche Flächen vorzubereiten für Getreide“, sagt Ivan.
So fahren wir über 40 km zusammen. Nach etwa 20 km treffen wir ein Ehepaar aus Holland, das von Heerlen aus mit dem Fahrrad gefahren ist. Die beiden wundern sich nicht schlecht, als ich weiß wo Heerlen ist. Ich lüfte das Rätsel und erzähle ihnen, dass ich in Maastricht studiert habe, was ja nur 30 km von Heerlen entfernt liegt.
Die beiden Holländer sind schon etwas betagter, und die Frau schwärmt mir vor, dass sie ohne E-Bike niemals den Pilgerweg hätte machen können.
„Wirklich toll, was die E-Bikes mittlerweile machen können. Ich bin so froh, dass ich so noch die Gelegenheit habe, mir diesen Traum zu erfüllen.“
Dann beäugt sie mein Fahrrad und fragt: „Hast du auch ein E-Bike?“
Tatsächlich wird mir diese Frage sogar relativ häufig gestellt, weil ich zwischen Hinterrad und Sattelstütze einen schwarzen Kasten am Fahrrad habe. Dieser dient aber nur dem Transport von Werkzeugen und trägt keinen versteckten Motor. Schön wär’s!
Das erkläre ich der Frau, die meint „Gut so, du bist ja jung und stark und hast sowas nicht nötig… Obwohl man auch immer mehr junge Menschen sieht, die mit Motor unterwegs sind.“
Ich aber nicht. Bei mir steht Muskelkraft hoch im Kurs!
Ivan schaut auf seine Uhr. „So, wir müssen weiter, sonst schaffe ich es nicht rechtzeitig in meine Herberge.“
Ivan erklärt: „Die Betten sind nicht reserviert und wenn man Pech hat, kommt man an und es schläft ein anderer Pilger dort, wo du die Nacht verbringen wolltest.“
Einem solchen Zeitdruck würde ich mich nicht aussetzen wollen. Ich finde, da geht die Spontanität am Reisen verloren und die Fähigkeit sich auf den Zufall einzulassen. Ich hätte mich zum Beispiel auch gerne länger mit den Holländern unterhalten – ich habe gemerkt, das Gespräch wäre noch ergiebig gewesen.
Ich lerne schnell, auf dem Camino ist der Tagesablauf in die Frühe geschoben. Die Pilger stehen früh auf, und kehren auch früh wieder ein. Ab 16 Uhr ist der Weg so gut wie leer.
Trotzdem, genügend Zeit, um etwas zu trinken ist auf jeden Fall vorhanden. Ivan lädt mich auf ein Bier und einen Kaffee ein. Frisch gestärkt meistern wir auch einen letzten steilen Anstieg auf Schotter, bevor wir einen steinigen Weg hinunterbrettern.
Dort werde ich leider etwas übermütig und vergesse, dass ich auf einem Reiserad und keinem Mountainbike unterwegs bin. Ich schlage mit der hinteren Felge fest auf einem Felsen auf und höre ein sattes „Klonk!“
Jetzt habe ich bestimmt einen Platten denke ich. Aber nichts passiert, die Luft im Reifen bleibt drin. Doch als ich das nächste Mal bremsen muss, fühlt sich irgendetwas komisch an. Es ruckelt. Bei näherer Betrachtung meiner Felge sehe ich: Ich habe sie etwas ausgebeult!
Zum Glück ist das Rad noch rund, und man merkt es nur beim Bremsen. Meine Versuche in Steinzeit-Manier mit einem Stein die Felge gerade zu klopfen, machen es nur unwesentlich besser. So ein Mist! Der Spruch bewahrheitet sich: Hochmut kommt vor dem Fall.
Kurze Zeit später treffen wir in dem Dorf ein, wo Ivan die Nacht verbringt. Wir verabschieden uns und tauschen noch unsere Nummern aus, dann fahre ich weiter mitten in die ausgebreiteten Arme einer Regenwolke. Ich stelle mich unter, während diese sich ausregnet.
Als die Wolke vorbeigezogen ist, kommt die Sonne heraus und ich fahre noch drei herrliche Stunden auf einsamen Wegen. Gegen 18 Uhr schlage ich mein Zelt auf und mache Feierabend. Mit 130 km geht der längste Tag meiner bisherigen Tour zu Ende. Hasta mañana!