Tag 62: Im Zoo auf dem Camino

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Mein Zeltlager habe ich am vorherigen Abend auf einem kleinem, aber ebenen Stück Wiese aufgeschlagen. Am nächsten Morgen scheint die Sonne, aber es ist frisch!

Schon um 6 Uhr hörte ich die ersten Pilger auf dem nahegelegenen Weg vorbeimarschieren. ‚Klick klick klick‘ machen die Wanderstöcke.

Um 7 Uhr höre ich allerdings ein Geräusch, was nicht dem typischen Pilger zuzuordnen ist. Mit schweren Schritten schleicht ein Mensch um das Zelt herum. Dann höre ich einen Ton, wie eine Handykamera auslöst. Hat da etwa ein Pilger nach dem idealen Winkel gesucht, um mein Zelt zu fotografieren?

Jedenfalls fühle ich mich langsam wie in einem Zoo, und 5 m neben dem Pilgerweg bin ich ja auch wie auf dem Präsentierteller. Ich dachte nie, dass mir hier die Privatsphäre wirklich wichtig ist, aber jetzt reicht es mir. Um 8 Uhr packe ich die Sachen zusammen und fahre los.

Während ich an einer langen Schlange Pilger vorbeifahre, frage ich mich, wer derjenige war, der (oder die) mein Zelt so interessant fand. Überall höre ich Amerikanisch, gelegentlich auch Französisch, Koreanisch oder Deutsch.

Jedes Mal, wo man an Pilgern vorbeifährt, tauscht man ein „Buen Camino!“ raus. Nach dem 30. Mal wird es langsam zu einer Floskel und die Worte verlieren mehr und mehr ihre Bedeutung.

Ich mache gegen 14 Uhr eine kurze Pause. Dabei treffe ich vier Südkoreaner. Ihre Namen sind Yeti, Dari, June und Ti (‚Frei‘ nach Gehör). Unsere Unterhaltung ist wirklich lustig und von viel Lachen geprägt, wenn wir uns nicht richtig verstehen. Obwohl Südkorea oft an der Weltspitze in den standardisierten Tests abschneidet, ist die Sprachpraxis etwas, was fehlt. Aber wir haben viel Spaß zusammen!

Als ich erzähle, dass ich aus Deutschland bin, ist die erste Bemerkung: „Deutschland hat richtig gute Technik. Made in Germany, das ist das beste der Welt!“

„Aber Korea hat auch gute Unternehmen, Samsung und so“, sage ich.

Haha, muss Dari lachen. Wir sind Apple-Kunden, sagt sie.

Alle halten zur Bestätigung ihrer neuen iPhones hoch, an den Handgelenken glänzen die Apple Watches.

Die Gruppe besteht aus drei jungen Frauen und einem Mann. Jetzt wird mir eine heikle Frage gestellt: „Wie alt schätzt du uns denn?“

Für mich wirken die vier recht jung. Es ist immer etwas schwieriger, das Alter einzuschätzen, wenn das Aussehen anders ist.

„Ich wage mal einen Schuss ins blaue, aber seid mir nicht böse, wenn ich daneben liege. Ich würde sagen um die 25.“

„Gut geraten! Zwei von uns sind 26 die anderen sind 27.“

Test bestanden, immerhin habe ich sie nicht älter eingeschätzt als sie sind! Wobei, in Asien bringt man doch der älteren Generation sehr viel Respekt entgegen… Jedenfalls sind die vier danach genauso freundlich wie vorher.

„Lauft ihr den ganzen Camino“, frage ich.

„Ja, wir laufen den ganzen spanischen Abschnitt, 900 km.“

„Und wie viele Kilometer lauft ihr so am Tag?“

„Im Schnitt um die 30. Wir stehen immer um 4 Uhr morgens auf.“

„Uff! Das wäre mir wirklich zu früh. Ich stehe meistens um 8 Uhr oder 9 Uhr auf.“

„Dann verpasst du aber die schönen Sterne“, bemitleidet mich June. Sie zeigt mir ein Foto auf ihrem Handy, wo sehr deutlich die Milchstraße zu sehen ist.

„Vielleicht schaffe ich es ja, mich einmal so früh aufzuraffen“, ist meine Replik.

Gestern hat mir Ivan erzählt, dass vor etwa fünf Jahren ein berühmter südkoreanischer Fernsehmoderator ein Buch über den Camino geschrieben hat. 10 Millionen Mal und mehr hat es sich verkauft. Seitdem sind Koreaner eine der Hauptgruppen auf dem Pilgerweg. Deshalb bin ich neugierig und frage: „Wie habt ihr denn von dem Weg hier erfahren?“

„Oh, ich habe einen Freund, der denn schon mal gemacht hat und ihn uns empfohlen hat. Wir kombinieren das jetzt mit einer Europareise. Es ist das erste Mal, dass wir in Europa sind.

Yeti und Dari fliegen später noch nach Barcelona, während June und Ti nach Porto fahren.

Ob ich schon mal in Asien war, fragen mich die vier.

„Nein, leider nicht. Obwohl ich doch sehr gerne auch Asien sehen würde.“

„Mit dem Fahrrad?“

„Haha, also vor drei Monaten hätte ich gesagt wahrscheinlich nicht. Aber auf der Radtour habe ich jetzt so viele abenteuerlustige Leute kennengelernt, dass mir eine Radtour nach Asien gar nicht mehr so verrückt vorkommt.“

„Dann musst du unbedingt auch Südkorea besuchen. Wir haben eine Insel, wo es ganz viele Mountainbike-Strecken gibt!“

„Das muss ich mir merken, Mountainbike fahre ich nämlich sehr gerne.“

Ich bin neugierig, was die vier so im normalen Leben machen. Ti erzählt, dass er schon studiert hat, jetzt aber noch ein zweites Studium im Programmieren absolviert. Sehr pragmatisch, denke ich. Das wird in Zukunft noch wichtig sein, wie eine Fremdsprache zu können.

Dari hingegen macht etwas ganz anderes: sie ist Physiotherapeutin.

„Genau das richtige für den Camino“, bemerke ich.

„Ja“, rufen alle.

Leider hat sich Jule trotzdem ordentliche Blasen gelaufen. Jetzt läuft sie in Flip-Flops, die ganze Tagestour von 34 km.

Insgesamt spazieren wir 5 km zusammen.

Ti ist neugierig, was ich mache, wenn ich nicht auf dem Fahrrad sitze.

„Ich habe Wirtschaft studiert“, erzähle ich.

„Und wer ist dein Lieblingsökonom?“

Gute Frage, so intensiv beschäftigt man sich gar nicht mit den großen Denkern der Ökonomie beim Wirtschaftsstudium. „Keynes“, sage ich. Den müsste man eigentlich kennen. „Genau nach seinem Vorbild haben die Staaten in der Finanz- und auch in der Coronakrise gehandelt – und zwar indem sie (z.B. durch das Kurzarbeitergeld) die Wirtschaft gestützt haben. Jetzt kommt es darauf an, in guten Zeiten Überschüsse zu erwirtschaften und die Schulden aus der Krise abzubauen. Jedenfalls wenn wir der Logik von Keynes folgen.“

Gegen 16 Uhr kommen wir in dem Dorf an, wo die Koreaner die Nacht verbringen werden. Wir verabschieden uns herzlich und Yeti gibt mir ein kleines Andenken mit: eine koreanische Flagge als Anstecker. Während die vier zu ihrer Herberge laufen, setze ich mich in ein Café, und esse eine Empanada.

Dort treffe ich einem anderen Deutschen, der den spanischen Abschnitt des Pilgerwegs macht. Wir unterhalten uns und trinken ein Bier zusammen. Es stellt sich heraus, dass der Mann in Münster studiert hat. „Leider habe ich damals nie so eine Reise unternommen wie du. Ich habe es verpasst. Jetzt mit 50 hole ich das endlich mal nach.“

Er erzählt mir von seinem Sohn, der eine Lehre als Zahntechniker gemacht hat und jetzt Zahnmedizin studieren möchte. „Wie geht es bei dir weiter?“, fragt er mich. „Ja, ich möchte auch noch meinen Masterabschluss machen, aber ich weiß noch nicht wo. Einige Zusagen habe ich aber schon.“

Der Mann wundert sich. „Hast du schon Zusagen in Deutschland?“, fragt er nach. „Nein, in den Niederlanden. Ich habe mich dort und in Dänemark beworben.“

„Ach, Dänemark. Das wäre doch auch eine schöne Sache. Sehr rücksichtsvolle Autofahrer“

„Aber ein bisschen zu flach für meinen Geschmack“, erwidere ich. „Aber ich kann mich anpassen, habe ja schon den Bachelor in den Niederlanden gemacht…“

An einem anderen Tisch sitzen einige Amerikaner, die von der außerweltlichen Schönheit des Caminos schwärmen. „Beyond beautiful“ sagen sie immer wieder, als ob dadurch die Bilder im Kopf noch schöner werden. Vielleicht tun sie das ja auch, man wiederhole etwas oft genug und irgendwann glaubt man dran.

Aus der Erfahrung von einigen tausend Vergleichskilometern würde ich sagen, der Camino ist ein netter Weg, auf dem man sicherlich nicht verhungert, was Essen und Gespräche anbelangt. Außerweltliche Schönheit findet man aber sicherlich woanders besser.

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