Tag 19 – Ruhetag in Annecy

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1:45

Als ich schrieb, dass mein Kopf erschöpfter ist als die Beine, machte ich die Rechnung leider ohne meinen Magen…

Ich bin um 10:30 Uhr ins Bett gegangen. Wirklich wohl war mir schon beim Abendessen nicht, mein Magen fuhr Achterbahn.

Jetzt, wo ich im Bett liege, baut sich von Minute zu Minute ein Tsunami auf. Obwohl ich unter zwei dicken, warmen Decken liege, zittere ich vor Kälte. In meinem Verdauungsorgan tobt eine Feldschlacht.

Irgendwann kapituliert der Magen. Was mit Blähungen anfängt, endet mit einem Müllsack. Ich schaffe es zwar noch, ein paar unruhige Stunden Schlaf zu bekommen, aber am nächsten Morgen fühle ich mich echt gerädert.

14:00

Am liebsten unterhalte ich mit meinen Gastgebern, aber heute bin ich zurückgezogen in meinem Bett. Das Gewissen nagt an einem, man will ja nicht unhöflich sein. Ich habe auch erzählt, dass mir nicht ganz wohl ist, aber wie schlimm es heute Nacht war, habe ich auch nicht grafisch ausgemalt. Mir würde dazu zwar nicht die Fantasie fehlen, aber die französischen Vokabeln.

Und mit dem Stichwort Vokabeln und Sprache sind wir an einem Thema angelangt, mit dem man als Reisender, der auf andere angewiesen ist, immer wieder konfrontiert wird. Das Thema der Gruppenzugehörigkeit.

Wer zu der Gruppe gehört, dem kann man vertrauen. Dem ist man offen gegenüber. Heißt für den Reisenden, dem öffnen sich Möglichkeiten.

Aber wie ordnen wir überhaupt in einer komplexen Gesellschaft ein, wer zur Gruppe gehört? Wem kann man vertrauen?

Man kann nicht sofort eine Person durchleuchten, also wird auf oberflächliche Merkmale geschaut und kategorisiert. Sprache ist neben Aussehen so ziemlich das Offensichtlichste.

Eines der wichtigsten Merkmale, auf das man achtet ist, ob eine Person deine Sprache spricht und sie die Sprache auch so spricht, wie du sie sprichst. Mit wem man sich nicht unterhalten kann, oder der anders spricht als man selbst, dem weht eher Misstrauen entgegen.

Wer als Reisender also wirklich Beziehungen aufbauen möchte, der muss sich die Zeit nehmen, sich mit den Leuten zu unterhalten. Manchmal klappt es mit Englisch, doch in meiner Erfahrung haben Gespräche eine andere Qualität, wenn man sich auf der Landessprache unterhalten kann. Das ist von umso größerer Bedeutung, wenn die andere Person keine weiteren Sprachen gut beherrscht.

Mir ist bisher immer eine große Dankbarkeit entgegengestrahlt, als ich mich auf Französisch mit Leuten unterhalten konnte. Es ist ein Zeichen, dass man auf das Land und seine Bewohner zugeht. Dass man der Kultur offen und zugeneigt ist. Und damit auch eines der stärksten Argumente dafür, dass einem vertraut werden kann, dass man als “in-group” akzeptiert werden sollte.

Ich will ja auch reden, denn auf einer solo Bikepacking Tour kommt das Reden leider oft zu kurz. Es ist ungesund sich zu viel nur mit der Echokammer in der eigenen Birne zu beschäftigen. Das führt zu gedanklicher Inzucht. Deshalb öffne ich mich gerne und höre mit einem offenen Ohr zu.

In diesem Falle sind die Grundvoraussetzungen gelegt, dass man in der Fremde ein kleines Stück Heimat gewinnt: Jedenfalls, wenn man Heimat als den Ort definiert, wo man geliebt und wertgeschätzt wird.

Etwas Heimat und Geborgenheit auch in der Fremde ist für einen Reisenden – nicht mit einem Urlauber zu verwechseln – eine absolut notwendige Bedingung für die eigene Zufriedenheit. Sprache wird für mich als Reisenden also zu einem Schlüssel des eigenen Wohlbefindens.

21:00

Nun noch einmal zu ganz weltlichen Dingen. Zum Glück geht es meinem Magen wieder etwas besser. Gut, ich habe bis auf zwei Scheiben Weißbrot mit Marmelade auch nichts gegessen.

Nachmittags konnte ich sogar mit Jean-Luc und Chantal einmal um den See fahren und die Stadt Annecy besuchen.

 Eine Altstadtstraße in Annecy

Annecy hat viele mittelalterliche Gebäude, die im italienischen Stil gehalten sind. Die überhängenden Dächer, die gelb und Rottöne der Farben – alles wirkt sehr südländisch.

Chantal erzählt, dass Annecy aus einem Streit mit dem einflussreichen Genfer Bischof hervorgegangen sei. Lange Zeit gehörte die Stadt auch dem italienischen Reich an. Daher also der italienische Einschlag in der Architektur.

Und noch etwas fällt auf: die Stadt ist durchzogen von Kanälen, die zum Teil auch unter Gebäuden wie einer Kirche durchfließen. Deshalb rühmt sich Annecy damit ein “Venedig des Nordens” zu sein.

Als sie das sagt, schmunzelt Chantal und fügt hinzu, dass noch mindestens 20 andere Städte diesen Titel für sich beanspruchen. Warum alle immer wie Venedig sein wollen, statt die eigenen Besonderheiten zu betonen, ist wohl nur damit zu erklären, dass sich damit mehr Touristen anlocken lassen. Offenbar kann der Durchschnittstourist gar nicht genug von “Venedig” bekommen…

Venedig hin oder her: Annecy und Umgebung sind einen Besuch wert.

Palais de l´Isle (auch Palais de l´Île genannt), erbaut 1132 als Wohnhaus des Seigneur d`Annecy. Hier der Blick auf die Kapelle und den Wohnturm des Gebäudeensembles

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