Tag 20: Gastfreundschaft par Excellence

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Annecy -> Nattages

Ein phänomenaler Tag wird komplettiert durch phänomenale Gastgeber. Jean Pierre und Michèle, bei denen ich die Nacht verbringen werde, haben mich sofort freundlich begrüßt.

Das ist das Sahnehäubchen nach einer beeindruckenden Strecke mit nervenkitzelnden Serpentinenstraßen und himmlischen Ausblicken direkt auf den Lac du Bourget.

Jean Pierre und Michèle wohnen in einem Haus direkt am Hang, mit sensationellem Ausblick auf die 1500m hohen Berge des französischen Jura. Sie haben einen großen Garten, wo sie ihr eigenes Gemüse anbauen. Salat aus dem Garten kommt jeden Tag auf den Tisch. Frisch, knackig und mit Sicherheit voller wohltuender Vitamine.

Ich habe eine ganze Etage im Haus für mich unter dem Dach. Ein eigenes Bad, eine Toilette und ein Schlafzimmer, welch ein Luxus!

In der Ecke vom Esszimmer, das offen in die Küche übergeht, steht das derzeitige Kunstprojekt von Michèle: Eine Landschaft in Acryl gemalt. Überall im Haus hängen ihre Kunstwerke, mal abstrakt – mal realistisch, häufig Landschaften. Michèle malt wirklich gut, aber nur als Hobby. Sie mache einen Kurs, erzählt sie, wo sie ein super Lehrer habe, der ihr schon viel weitergeholfen hat.

So auch bei der grünen Landschaft auf der Leinwand auf dem Gestell: dort wollte sie ursprünglich noch mehr Grüntöne einfügen. Doch dann hat ihr Lehrer gesagt, dass ein Bild von Kontrasten lebt und sie deshalb besser eine Komplementärfarbe, wie ein rötliches Braun hinzufügen sollte. Und es stimmte, das Bild hat nun eine wilde, mystische Atmosphäre.

Im Berufsleben war Michèle Krankenschwester an einer Schule. “Ich kenne alle Ausreden der Kinder, um nicht in die Schule zu müssen”, sagt sie. Ja, die Schule sei wirklich nicht für alle Kinder leicht. Manche Kinder würden auf andere Art und Weise viel besser lernen können als in dem institutionalisierten Schulsystem. Oft waren es dann diese Kinder, die sich eine Krankheit ausgedacht haben, nur um dem Klassenzimmer zu entkommen.

Da Jean-Pierre und Michèle nicht wussten, ob ich Vegetarier bin oder nicht, hat Michèle eine vegetarische Lasagne zubereitet. Enthalten sind Schafskäse aus der Region, zusammen mit Spinat. Eine köstliche Mischung, und genau das richtige nach einem anstrengenden Tag. Als Abschluss gibt es, wie üblich in Frankreich, einen Käseteller. Käse schließt den Magen sagt man wohl nicht zu Unrecht – und man würde meinen, der Spruch kommt aus Frankreich.

Der krönende Abschluss ist eine Kostprobe vom eigenen Imkerhonig. Jean-Pierre hat nämlich in seinem Garten Bienenstöcke stehen, mit denen er seinen eigenen Honig produziert. Der Honig hat eine dunkelgoldene Farbe und einen stark karamellisierten Geschmack – er ist wirklich ein Gaumenschmaus!

Als wir uns später bei einem gemütlichen Kaminfeuer unterhalten, führt mir Jean-Pierre noch seinen selbstgemachten Kräuterschnaps vor. Schnaps, Zucker und selbstgesammelte Kräuter erschaffen das Getränk.

Während wir trinken, erzählen mir Jean Pierre und Michèle von ihren vorherigen Gästen. Von den Amerikanern, den Polen und dem spanischen Ehepaar aus Barcelona, das sich eines Tages entschied, bis zum Nordkap zu radeln. Von dort aus schickten sie Jean-Pierre und Michèle schließlich ein Bild. In ihren alten Berufsalltag wollten sie danach nicht mehr einsteigen, sie reisen bis heute mit dem Fahrrad.

Es gibt einen „point of no return“, sagt Jean-Pierre, ab dem man nur noch sehr schwer in einen normalen Berufsalltag zurückkehren kann. Nach einem halben Jahr auf der Reise hat man sich so sehr verändert, dass man gar nicht mehr in das alte Leben zurückfinden könne. Jedenfalls nicht ohne große Schwierigkeiten, eine Art Kulturschock.

“Es ist wirklich unglaublich bereichernd all diese Menschen kennengelernt zu haben”, schwärmen Jean-Pierre und Michèle. „Warm Showers“ (Gastfreundschaftsnetzwerk für Radreisende) ist wirklich eine tolle Möglichkeit, um mit Fahrradfreunden aus aller Welt in Kontakt zu kommen. Ebenso interessant ist es zu sehen, wie andere Menschen leben. Das hält einem selbst bei vielen Dingen den Spiegel vor. Plötzlich bekommt man ganz neue Ideen und Anreize. Man erkennt die Vielfalt der Menschen. Und ihre Gemeinsamkeiten.

Eine dieser Gemeinsamkeiten ist die Gastfreundschaft. Wenn man so etwas mitbekommt, sagt Michèle, dann verliert man auch in schlechten Zeiten mit Krieg, Hunger und Armut nicht die Hoffnung in die Menschheit.

Jean Pierre und Michèle sind wohl Mitte- bis Ende 70. Sie sind echte Urgesteine der Radreiseszene. Vor 40 Jahren fuhren sie mit dem Fahrrad auf ihrer allerersten Reise durch Tunesien. Eine schreckliche Erfahrung erzählen sie, aber so schrecklich sie auch war, sie hat sie nicht davon abgehalten, viele weitere Reisen zu unternehmen. In Tunesien, erzählen sie, waren sie bei 40 bis 45 Grad Hitze durch kilometerlange Olivenbaumplantagen gefahren. Soweit das Auge reichte, nur diese Plantagen. Zum Wahnsinn werden!

Zu Fuß haben die beiden auch den Iran und Myanmar bereist. Überall, insbesondere in den ärmsten und abgelegensten Gebieten, waren sie von der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Menschen überwältigt. Dass viele der Länder, die sie bereist haben, nun in einem Sumpf des Krieges und der Misswirtschaft stecken, treffe sie tief. Die Menschen dort, betont Michèle, sind so freundlich, wie wohl nirgends auf der Welt. Solch ein Schicksal haben sie nicht verdient.

Ihre letzte Fahrradreise ging nach Rumänien. Wie im Frankreich der Nachkriegsjahre sei es dort. Bäuerlich geprägt, kleine Dörfer. Ob sie alleine unterwegs waren in Rumänien, frage ich. Jean-Pierre schüttelt den Kopf, nein. Es war eine Gruppentour, die begleitet wurde durch einen Einheimischen aus der Gegend. Und mit Bären frage ich, hattet ihr da Probleme? Schließlich sollen ja 90% aller europäischen Braunbären in Rumänien leben. Auch da nicht, meint Jean Pierre. Sie seien immer untergekommen bei Einheimischen oder in Gasthäusern.

Schließlich erzählt mir Jean-Pierre noch etwas über die Imkerei, die Bienenzucht und seine Aufgabe in der regionalen Honigjury. Dort bewertet er Honige aus der Region. Er erklärt mir, auf was man achtet als Honigsommelier. Man schaut sich Farbe an, prüft die Konsistenz und den Geschmack: Sind die Aromen komplex und vielschichtig? Ist der Honig herb oder gar bitte, oder eher süß? Welche Noten von welchen Blumen und Kräutern tauchen auf? Welche Emotionen ruft der Honig hervor?

Es ist wirklich nicht einfach, den besten Honig zu krönen, sagt Jean-Pierre. Manchmal habe er schon ein schlechtes Gewissen, wenn er zwischen zwei Honigen den besseren aussuchen müsste, und er wirklich keinen höher ansiedeln kann als den anderen.

Aber so ist das halt: Die wenigsten Entscheidungen sind schwarz oder weiß, ganz eindeutig. Das wichtigste ist, den Honig zu genießen und die fantastische Leistung der Bienen zu würdigen. Regional produziert, das ist wichtig.

Als ich mich schließlich gegen Mitternacht ins Bett lege, falle ich sofort in einen tiefen Schlaf. Ich bin mir sicher, ich hatte ein Lächeln auf dem Gesicht.

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