Tag 146: Zeit für ein wenig Selbstreflexion

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Der griechische Philosoph Heraklit, der zwischen 540 und 480 v. Chr. in Ephesos in der heutigen Türkei lebte, schrieb: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.

Die Aussage, die Heraklit machen möchte, ist dass es nichts Festes, nichts Bleibendes gibt. Das Leben ist stattdessen nur ein ständiges „Werden“.

Diese Sichtweise ist bekannt geworden als die „Flusslehre“. Spätere Akademiker kochten Heraklits Vorstellung hinunter auf die einfache Formel “Panta Rhei: Alles ist im Fluss.”

Alles fließt, und doch fließt alles in einem anderen Tempo. Während die Erdplatten mit wenigen Zentimetern im Jahr “fließen”, schießt ein pyroklastischer Strom mit hunderten Stundenkilometern einen Vulkan hinab.

Der Fluss, in dem ich die letzten fünf Monate schwamm, schwemmte unzählige Erlebnisse, Abenteuer, Höhen und Tiefen zu mir hin. Er floss schnell und unberechenbar. Vielleicht nicht vergleichbar mit einem Lavastrom, aber doch mit einem rauschenden Gebirgsfluss, gespickt mit Stromschnellen und Felsbrocken.

Plötzlich bin ich aber angekommen. Die Fahrradtour ist vorüber. Was passiert jetzt?

Der reißende, aufregende und vielleicht auch manchmal gefährliche Strom, in dem ich mich die letzten fünf Monate behaupten musste, verliert seine reißende Kraft. Er wird sanftmütig, zahm und spiegelglatt. Langsam mäandriert er dahin; so langsam, dass ich meine, ich stünde still. Hat sich hier in den letzten Monaten überhaupt etwas verändert?

Diese radikale Veränderung macht natürlich etwas mit einem, macht etwas mit mir.

Wer in der Reiseliteratur stöbert, wird in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der „Post Vacation Blues“ konfrontiert. Manchmal, viel bedrohlicher klingend, schreiben Autoren auch von „Post Travel Depression“.

Ich finde, dass der Begriff der Depression im Moment inflationär benutzt wird und hier in den meisten Fällen vermutlich überhaupt nichts zu suchen hat. Aber wer von 100 auf null abgebremst wird, kann durchaus ein Stimmungstief erleben. In eine Sinnkrise stürzen, alle Motivation verlieren und die Frage stellen: Bin ich in meiner alten Lebenswelt überhaupt noch zu Hause?

Es kommt vor, dass Langzeitreisende diese Frage mit einem „Nein“ beantworten. Ich selbst habe einige solcher Menschen getroffen. Sie begannen zu reisen und stellten fest, dass sie zu irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt einen „Point of no Return“ überschritten hatten. Eine Grenze, die, wenn sie überschritten ist, eine Rückkehr in den vorherigen Alltag immens erschwert.

Ist die Grenze überschritten schmeckt das alte Leben fade und fühlt sich sinnentleert an. Der Mensch, der aus der Haustür hinauslief, ist nicht derselbe, der nach einem halben oder einem ganzen Jahr wieder an der Haustür anklopft.

Du bist nicht mehr wie früher. Reisen heißt, im Werden zu sein.

Wer reist, durchläuft einen Entwicklungsprozess wie im Zeitraffer. Dann kann es durchaus sein, dass das eigene Puzzlestück nicht mehr in das alte Puzzle passt. Je länger man unterwegs ist, umso wahrscheinlicher ist dieses Ergebnis.

Insbesondere, das sagten mir Langzeitreisende während meiner Tour, wird es begünstigt, wenn eine Unzufriedenheit mit dem vorherigen Leben vorlag. Besonders häufig wurde das Reisen bei den Leuten zum Lebensinhalt, die niemanden zu Hause hatten, der auf sie gewartet hat oder ein aufrichtiges Interesse für ihre Erlebnisse entgegenbrachte.

Doch damit ist genug um den heißen Brei geredet. Wie sieht es bei mir ganz persönlich aus? Ist das sesshafte Leben für mich fade und langweilig geworden, so dass ich am liebsten direkt weiterreisen würde? Passt mein Puzzlestück noch in das Puzzle?

Ich finde, ja. Ich habe einen Hafen, den ich anlaufen kann, wo man auch aufrichtig daran interessiert ist, was ich während meiner Reise erlebt habe und wie mich die Reise geprägt hat.

Es gibt so manches, das ich während meiner Reise vermisst habe. Dazu gehört es, meine Familie wiederzusehen. Gemütlich auf einem Liegesessel in einem Buch zu schmökern. Täglich richtig gutes Essen zu haben. Nichts vermiest die Stimmung zuverlässiger, als Hunger zu haben und nicht zu wissen, wo die nächste Mahlzeit herkommt.

Für mich waren das Entbehrungen. Jetzt, weiß ich das, was ich vermisste, umso mehr zu schätzen.

Gleichzeitig gibt es gewisse Entbehrungen in dem Leben, in das ich nun zurückgekehrt bin.

Ich verzichte auf viele herrliche Sonnenuntergänge an traumhaften Orten, die ich alleine für mich habe.  Mir wird der Geschwindigkeitsrausch, den man auf den Pyrenäenpässen erleben kann, fehlen. Und den ganzen Tag draußen an der frischen Luft in Bewegung zu sein, nie wissend, auf was und wen man stößt. Vor allem verzichte ich auf viele Geschichten: Begegnungen mit faszinierenden und freundlichen Menschen, die mir auf der Reise immer wieder neue Kraft gaben.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass es sich um eine Frage der Alternativen handelt. Es gibt Dinge, die mit dem ständigen Reisen nicht vereinbar sind: ebenso gibt es solche, die mit einem ortsgebundenen Dasein nicht harmonieren. Der Wechsel von einer Lebensart in die andere, vom ständigen „in Bewegung sein“ zu einem festen Ort, hat auch bei mir gewisse Anpassungsschwierigkeiten verursacht.

Es beginnt schon auf ganz praktische Ebene damit, dass der Bauch einfach nicht mehr große Mengen an Essen auf einmal gewohnt war.

Wichtiger ist aber: Als plötzlich das Radfahren aus meinem Tagesablauf verschwand, fiel mir auf, wie viel Zeit ich plötzlich mit irgendwelchen Tätigkeiten füllen musste.

Ich schlug erstmal die Hände über dem Kopf zusammen, und fragte mich: Was soll ich denn die ganze Zeit machen!? Ich lebte nach der Ankunft in den Tag hinein und schaffte es nicht einmal, über einen Zeitraum von etwa einer Woche regelmäßig zu schreiben. Und das, obwohl ich paradoxerweise viel mehr Zeit zur Verfügung hatte, als während der Radtour!

Es entbehrt sich nicht einer gewissen Ironie, dass ich in so manch einem Blogbeitrag über Selbstdisziplin und Initiative ergreifen schrieb, und nun, in dem Moment, wo ich ankam, ich selbst träge wurde. Ich hatte mich während meiner Radtour nicht selbst diszipliniert: das Fahrradfahren hat mich diszipliniert – ja, meinen Tag erfüllt!

Sich selbst einen neuen Tagesablauf zu gestalten, der einen erfüllt, ist kein leichtes Unterfangen. (Meiner Ansicht nach übernimmt die Schule oder die Arbeit diese Aufgabe im Leben der meisten Menschen.) Es wäre sicherlich einfacher, weiter Fahrrad zu fahren.

Abgesehen von meiner kurzen Phase der Trägheit (die ich eher meinem Bedürfnis nach etwas Erholung und nicht einer „Post Travel Depression“ zuschreiben würde), glaube ich nicht, dass ich große Schwierigkeiten haben werde, mich in einen etwas gewöhnlicheren Alltag wieder einzufinden.

Meine Situation ist insofern besonders, als dass ich ja auch als Student keinen stark geregelten Alltag habe. Es winken auch hier viele neue Begegnungen und Erlebnisse, auf die ich schon jetzt große Vorfreude habe. In einem grauen Nebel der Langeweile, Trägheit und Träumerei werde ich nicht verschwinden.

Mir schwebt vor, an den Wochenenden Fahrrad-Mikroabenteuer zu machen. Ich möchte mich intensiver mit Mnemotechnik und dem Fachgebiet der Rhetorik auseinandersetzen. Und ich werde meine tägliche Schreibroutine beibehalten: Sonst wird das nie etwas mit meinem Buch!

„Perfection is many little things done well“, pflegt der britische Starkoch Marco Pierre White zu sagen. Wer die Kleinigkeiten nicht konsequent und gut macht, kommt gar nicht erst in die Lage, etwas Größeres zu schaffen. Meine Radreise zeigt: aus vielen kleinen Tagesetappen ergibt sich am Ende eine Strecke, die ein Viertel des Äquators umspannt.

Meine Tagesetappen sehen jetzt vielleicht anders aus. Ihre genaue Gestalt muss ich noch finden. Doch wenn ich in den nächsten sechs Monaten meine Tagesetappen mit derselben Konsequenz umsetze, wie in den vorhergehenden sechs Monaten, dann bin ich sehr zuversichtlich.

Leben heißt für mich lernen; lernen heißt, zu werden. Das Fahrradreisen wird für mich immer eines der schönsten Mittel sein, zu leben, zu lernen und zu werden. Meine Vorfreude auf die nächste Radreise ist riesig, aber sie schmälert nicht die ebenso große Freude auf das, was das nächste Jahr bringen mag.

Perspektive gewinnt man letztlich dadurch, dass man seinen Standpunkt wechselt. Um im Bilde Heraklits zu bleiben, bedeutet das, dass ich auch mal den Fluss wechseln muss. Es wäre doch langweilig, auf immer und ewig im Fluss des Radreisenden zu leben.

Legenden erzählen, dass in den Flüssen dieser Welt so manch ein verborgener Schatz schlummert, der nur darauf wartet, gehoben zu werden. 

Welchen werde ich entdecken?

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