Tag 151: Home Sweet Home

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Ein grauer Dunst hängt über allem. Links und rechts die kargen, abgeernteten Felder. Auf dem Weg liegen trockene Ahornblätter. Überall verblassen die Farben. Der Herbst kommt.

Am Morgen frühstücke ich gemeinsam mit meiner Gastgeberin Katja auf der Terrasse.

„Es ist doch so schön hier”, sagt Katja. „Ich freue mich jedes Mal, ins Grüne zu schauen. Warum es so viele Menschen gibt, die scheinbar alles haben und doch unzufrieden sind?“

Zufriedenheit sei immer eine Frage der Einstellung, meint Katja. Denn: „Es gibt immer Menschen, die den Kopf hochhalten, obwohl es ihnen nicht gut geht.”

„Der schnellste Weg zur Unzufriedenheit ist der Vergleich”, merke ich an. „Man findet immer jemanden der mehr hat, schöner aussieht oder glücklicher zu sein scheint. In der relativen Position zueinander, steht man schlecht da, obwohl es einem gut geht. Aber man kann sich dem Vergleich nicht immer entziehen. Man braucht andere Menschen. Das wurde mir auf der Tour auch ziemlich schnell klar. Ich stelle mir das vor, als hätte ich soziale Akkus. Immer wenn ich eine wertvolle Begegnung habe, laden sich die Akkus auf. Von dieser Energie kann ich dann zehren, wenn ich alleine bin.”

„Das ist eine schöne Metapher”, sagt Katja. „So geht es mir auch. Ich bin gerne für mich allein, aber dieses Frühstück zu zweit war wirklich eine schöne Abwechslung. Meistens frühstücke ich allein.”

„Ich nehme mir heute Zeit und mache einfach weniger Termine. Das hole ich dann am nächsten Montag nach. Das ist das tolle an meinem Beruf. Ich habe die Freiheit, mir meine Kundentermine einzuteilen.“

Gegen halb 10 verabschieden mich Katja und ihr Hund Mathilda. Über den Möhnesee und Soest geht es in Richtung Münster.

Der Möhnesee, eingehüllt im Morgendunst.

In Ahlen treffe ich auf den Werse-Radweg. An einer Straßenlaterne hängt ein Schild, auf dem steht: „Doc Caro. Buchlesung und Fragerunde in der Stadthalle.” Vom Plakat schaut mich eine Frau an mit tätowierten Unterarmen und einem grünen Arztkittel. Da will ich eines Tages mein Gesicht sehen: „Lukas Baumeister – Vortrag und Lesung“. Das wäre für mich Selbstverwirklichung.

Ich habe noch etwa 30 km zu fahren, als ich eine Radfahrerin sehe, die auf einer Bank eine Karte studiert. Ich fahre zuerst vorbei, drehe aber nach wenigen Metern um und frage: „Weißt du, wo du lang musst?”

„Ja”, sagt die vielleicht 40-jährige Frau mit langen braunen Haaren. „Ich wollte nur die Karte mit meiner Navigationsapp abgleichen. Manchmal ist die Wegführung nämlich anders.”

Wir kommen ins Gespräch. Die Frau stellt sich als Sandra vor. Sie kommt aus Düsseldorf und arbeitet als Grafikdesignerin. Da sie nur an vier Tagen in der Woche im Büro ist und den Freitag immer frei hat, hat sich Sandra entschieden eine Freundin in der Nähe von Münster zu besuchen und anschließend mit dem Fahrrad nach Osnabrück zu fahren.

„Ich bin ziemlich neu dabei mit dem Rad reisen”, erklärt Sandra. „Bei mir hat das alles nach einem Bandscheibenvorfall 2019 angefangen. Da fing ich dann an, viel Fahrrad zu fahren. Mein Arzt empfahl mir die Bewegung und es tat mir gut”

„Tja, manchmal haben auch schlechte Ereignisse ihre guten Seiten”, sage ich.

„Ja, seit dem Vorfall ist Sport nicht mehr nur ‚nice to have‘, sondern eine Verpflichtung für mich. So bleibt die Muskulatur stabil.“

„Bist du schon immer viel Fahrrad gefahren?”, fragt mich Sandra.

„Ja“, sage ich. „Mit größeren Touren fing ich an, als ich nach Holland zog, um zu studieren. Da dachte ich mir: jetzt musst du auch mal mit dem Fahrrad alleine nach Hause fahren. Meine erste Tour alleine und mit Gepäck machte ich dann 2018. Das war in den Osterferien, da bin ich in vier Tagen eine 500 km Runde nach Hause gefahren. Noch mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, einem unbequemen Sattel und ohne Zelt. Aber es packte mich. Seitdem lässt mich das Radreisen nicht mehr los…“

Sandra sagt: „Wenn man einmal Blut geleckt hat… Mir geht es ähnlich. Das Radreisen ist so entschleunigend.“

„Ja, das stimmt. Für mich ist es auch schlicht eine Abwechslung, auf die ich mich einfach immer freue. Man weiß nie, was man sieht und wen man trifft. Diese Erlebnislotterie macht irgendwo süchtig.“

„Und was stellst du dir vor willst du später machen?“, will Katja wissen.

„Ich will als Lehrer arbeiten und Vorträge halten. Aber ich nagel mich da nicht auf die Schule fest.“

„Was würdest du denn gerne unterrichten?“

„Ich habe viele Interessen. Aber ich stelle es mir zum Beispiel spannend vor, Trainings im Bereich Kommunikation und Rhetorik zu machen. Wie man gute Geschichten erzählt, zum Beispiel.“

„Das klingt interessant. Für mich geht das in Richtung Erwachsenenbildung. Ich habe jetzt kürzlich eine Ausbildung zum systemischen Coach gemacht“, erzählt Sandra.

Ich habe den Begriff noch nicht gehört und frage deshalb: „Was kann man sich darunter vorstellen?”

Sandra erklärt, dass wir alle Teile von unterschiedlichen Systemen seien. Menschen würden systemische Coaches aufsuchen, wenn sie ein Problem hätten, bei dem sie nicht weiterkämen.

„Ein systemischer Coach hilft jemanden, die Systeme, in denen man sich bewegt besser zu verstehen. Manchmal entdeckt man so Ansätze, wie man sein Leben verbessern kann. Die Leute kommen ja meistens erst zu mir, wenn sie ein Problem haben.”

„Es geht darum, dass sich jemand in andere Mitglieder des Systems, wie den Vorgesetzten oder die Kollegen hineinversetzt. So kann man mehr Klarheit darüber gewinnen, was die unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen derjenigen sind, die am System beteiligt sind. Das hilft manchmal schon, Ansätze für die Lösung des jeweiligen Problems zu finden.“

Es gehe nicht darum, Ratschläge zu erteilen. Es gehe darum, die richtigen Fragen zu stellen und jemanden zum eigenen Erkenntnisgewinn zu lotsen.

„Die Lösung, und auch die Motivation, müssten letztlich von innen hinauskommen. Ultimativ geht es um das Thema Selbstverwirklichung. Etwas zu finden, für das man brennt“, sagt Sandra.

„Und ist diese Ausbildung von einem privaten Träger oder staatlich?“, frage ich.

„Das ist ein privater Träger, ein Institut. Das kostet auch 5000 €. Ist also ganz schön teuer. Und leider kommt hinzu, dass ich durch die Abschlussprüfung durchgefallen bin und 300 € bezahlen muss, um sie zu wiederholen. Da bin ich noch am Knabbern, denn noch einmal durchfallen möchte ich nicht.“

„Ja, das verstehe ich. Andererseits hätte ich keine Lust, die 5000 € einfach in den Sand gesetzt zu haben.“

„Ja“, sagt Sandra, „Ich auch nicht. Es macht mir schließlich großen Spaß, Coach zu sein. Die Stimmung unter den Auszubildenden war richtig gut. Nur die Lehrer schienen nicht wirklich an uns interessiert zu sein, machten teilweise sogar ziemlich befremdliche Kommentare.“

„Die Abschlussprüfung war eine richtige Coaching Session von einer Dreiviertelstunde. Die Person, der ich half, war danach auch total zufrieden und sagte es hätte ihr sehr weitergeholfen. Die sogenannten Experten, die die Prüfung bewerten, waren aber anderer Meinung…“

„Das ist wirklich schade. Aber man hat bestimmt viel über Gesprächsführung gelernt,“ sage ich.

„Ja, absolut“, stimmt Sandra zu.

„Ich habe zum Beispiel mit einer Arbeitskollegin, die mit ihrer Arbeit unzufrieden ist, eine Sitzung gemacht. Sie konnte ihre Gefühle nicht richtig ausdrücken, deshalb nahm ich spontan einige Schleichtiere und ließ meine Kollegin aus Sicht der Tiere ihre Wünsche und Probleme formulieren. Plötzlich klappte es!“

„Da war die Schildkröte, die sich schüchtern und wenig selbstbewusst fühlte und sich in ihrem Panzer zurückzog. Und der Elefant, der sich ersetzbar fühlte und befand: die anderen sind viel besser als ich. Und das Pferd, von der Angst getrieben, dass es eines Tages nicht mehr gebraucht wird, und arbeitslos wird. Sogar auf der Straße landet.“

„Egal wie irrational die Ängste sein mögen, für meine Kollegin sind sie real und ich muss sie ernst nehmen.“

„Ich verstehe. Man muss zuhören und dem Gegenüber Respekt erweisen – ansonsten ist ein offenes Gespräch nicht möglich.“

Sandra beobachtete, wie die Tiere plötzlich ihrer Kollegin ermöglichten, frei über sich selbst zu reden. „Ich war nur noch die Stimme, die Anstöße gab. Die Spieltiere haben offenbar geholfen, dass sich meine Kollegin mir öffnen konnte. Sie machte sich nicht mehr selbst so angreifbar und verletzlich, sondern ließ die Tiere ihre Anwälte sein. Und das half, auch sensible Themen auszusprechen.“

Mich erinnert Sandras Erzählung an Techniken der Gesprächsführung, die Mario mir in Lissabon erklärt hat. Sehr spannend.  Metaphern – in diesem Fall die Tiere – können die Sicherheit bieten, unsere empfindlichsten Gefühle zu äußern.

Insgesamt fahre ich über eine Stunde mit Sandra am Werse-Radweg. Bevor sich unsere Wege trennen, empfehle ihr noch eine gute Eisdiele.

Nach Hause sind es nur noch 15 Kilometer, die mir alle bestens vertraut sind. Um halb 6 klopfe ich an der Haustür. Freddy ist der erste, der mich begrüßt. Freudig jaulend hüpft er die Treppe hinunter. Es ist alles beim Alten. War ich wirklich fünfeinhalb Monate fort?

Ein Apfel mit rotem Fruchtfleisch. Da habe ich zwei Mal hingeschaut, als ich reingebissen hatte.

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This Post Has 2 Comments

  1. Theo

    Hallo Lukas,
    las gerade über dich in der Glocke und schaue mir deinen interessanten Blog an. Dabei ist dir ein kleiner Fehler unterlaufen: du warst in Ahlen in Westfalen und nicht in Aalen, das liegt nämlich im Süden.
    Wünsche dir weiterhin viele tolle Erfahrungen und Begegnungen.
    Beste Grüße
    Theo

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