Tag 16: Unerwünschter Besuch

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Neuchâtel -> 40km vor Genf

Ich liege im Zelt, bin 105 km gefahren und habe dabei 1400 Höhenmeter erklommen. Mir fehlen noch 40 km bis Genf. Gerade habe ich mein Abendessen gegessen, dunkles Brot mit Käse und Hering. Der Hering war aber eindeutig zu salzig.

Das Wetter war ein Gemisch aus Sonne und Wolken. Über dem Jurakamm schneite es, dort hing eine dicke Wolkenschicht fest. Immer wieder erhaschte ich atemberaubende Blicke auf die Hochalpen, Spitzen versunken in dichten Wolkenteppichen.

Es wird eine kalte Nacht. Der Himmel ist klar und ich zelte auf 900 M.ü.M. Die Anhöhe, auf der ich mich befinde, beschert mir einen wunderschönen Blick direkt in das Tal mit dem Lac Léman, an dem Lausanne und Genf liegen. Im Tal funkeln die Lichter.

Gerade, als ich alles vom Abendessen zusammengeräumt habe und mir es im Schlafsack bequem gemacht habe, höre ich etwas. Sehr nahe, und auch recht laut. Schwere Tritte, Schnaufen, Grunzen. Wildschweine! Haben sie mein Essen gerochen? Wie verhält man sich überhaupt, wenn eines seine Schnauze plötzlich ins Zelt steckt! Ich lausche angespannt, Sekunden fühlen sich wie Minuten an. Leise ein und ausatmen. Puh! Erleichterung! Langsam entfernen sich die Geräusche. Stille kehrt wieder ein. Die Rotte ist weitergezogen.

Hoffentlich kommen die heute Nacht nicht noch einmal zu Besuch. Ich stelle mir vor, wie ich nachts pinkeln muss und urplötzlich Auge in Auge mit einer ganzen Rotte Wildschweinen stehe! Keine schöne Vorstellung. Aber gut. Das Abenteuerreisen ist nicht immer so sicher und bequem, wie man es sich vielleicht wünscht.

Immerhin habe ich jetzt ein gutes Thema, über das ich nachdenken kann. Immer wieder sprechen mich Leute an und sagen, wie mutig ich sei, alleine mit dem Fahrrad und Zelt zu reisen. Etwas Mut braucht man schon, das stimmt, und die ersten Nächte beim Wildzelten sind auch aufregend. Aber man gewöhnt sich erstaunlich schnell an neue Umstände (Im Guten wie im Schlechten, wohlgemerkt).

Bei meiner Art des Reisens glaube ich nicht, dass ich mich einer wesentlich größeren Gefahr aussetze, als in meinem alltäglichen Leben. Bisher bin ich nur in Westeuropa gereist, was wahrscheinlich die sicherste Region der ganzen Welt ist. Außerdem ist Tourenradeln sicherlich kein Risikosport – vielleicht mit der Ausnahme es im Feierabendverkehr zu tun! Damit ist auch schon die größte Gefahr für mich als Radfahrer benannt: Menschen in Autos.

Tatsächlich denken aber die meisten eher an eine andere Sorte Mensch, wenn es über die Gefahren des Wildzeltens geht. Gruselgeschichten, die oft mit Mord im Wald enden.

Doch beides ist zum Glück in unseren Gefilden äußerst selten – wenn auch spektakulär und deshalb in unserem Köpfen sehr präsent. Oft wird Ivan Milat, der Backpacker-Mörder, der in Australien sieben Reisende umbrachte, erwähnt. Weil die wenigen bekannten Fälle so einprägsam sind, neigen wir dazu, das Risiko solcher Gefahren extrem zu überschätzen.

Fakt ist jedoch: Die allermeisten Verbrechen werden dort begangen, wo auch viele Menschen sind. Im Wald tauchen später nur die Leichen auf. Leichen entstehen nicht im Wald, sie verschwinden dort.

Trotzdem ein Grund, warum der Wald oft mit Verbrechen assoziiert wird.

Zusammengefasst:

1. Die westeuropäischen Wälder sind nicht (außer bei Sturm) gefährlich.

2. Spektakuläre Ausnahmen prägen sich ein: Wir überschätzen ihre tatsächliche Wahrscheinlichkeit.

3. Menschen in Autos sind für mich die größte Gefahr.

4. Wo weniger Menschen sind, sind auch weniger böse Menschen.

Deshalb denke ich, dass ich hier in meinem Zelt doch sehr sicher bin – Vor Autos, bösgesinnten Menschen und sogar gefährlichen Tieren. (Hungrige Wildschweine mal ausgenommen!)

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