Tag 26: Der Hunger schlägt zu!

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9:00 – Sainte Croix

Die Wiese auf der ich genächtigt habe befindet sich direkt neben einem Bach. Mit dem Rauschen des Wassers im Hintergrund lässt es sich besonders gut schlafen. Natürlich trägt dazu ebenso bei, dass dieser Rasen penibel gepflegt, und deshalb weich und eben, ist. Immer wieder stelle ich fest, dass ich im Zelt besser schlafe und erholter aufwache als in einem richtigen Bett. Woran das wohl liegt? Vielleicht die kühlere Luft im Zelt?

Heute Nacht hatte ich jedoch wieder einen seltsamen Traum. Ich fuhr ich eine Passstraße hinunter. Der Wind rauschte in meinen Ohren und ich lehnte mich wie ein Rennfahrer in die Kurven. So weit so gut, jetzt das Seltsame. Alles spielte sich in einem Zelt riesiger Proportionen ab! Warum träumt man denn so verrückte Dinge?

Man weiß noch nicht genau, welche Funktion Träume eigentlich haben. Die gängigste Theorie ist, dass Träume helfen, damit aus Erlebnissen Sinnzusammenhänge und Erinnerungen entstehen.

Unser Gehirn ist ein Netzwerk von etwa 100 Milliarden Neuronen, die Zellen, aus denen der Großteil des Gehirns besteht. Ständig entstehen neue Verknüpfungen zwischen den Neuronen, während andere verfallen. Für die Gestaltung und Pflege des neuronalen Straßennetzes scheinen Träume (und der damit verbundene Schlaf) essenziell zu sein.

Vielleicht kann ich mir durch einen so absurden Traum also die Ereignisse des vorangegangenen Tages besser merken und einordnen.  Tatsächlich war ich ja mehrere steile, kurvige Passstraßen gefahren. Und im Zelt übernachte ich schließlich auch. Wer weiß, welche neuen Verbindungen bei diesem Traum im Gehirn entstanden sind!

Man kann sich sogar die Tatsache zunutze machen, dass das Gedächtnis unerwartete Kombinationen liebt.

Wer Interviews mit Gedächtnistrainern und Gedächtnisweltmeistern hört, der erfährt, dass sie sehr ähnliche Strategien verwenden, um sich Inhalte zu merken.

Ein neuer Inhalt wird mit einem bekannten Inhalt verknüpft. In meinem Traum war das Zelt der bekannte Inhalt. Der neue Inhalt war, dass das Zelt riesig groß und steil geneigt war, und dass ich darin mit dem Fahrrad gefahren bin.

Dieses verrückte Kopfkino hat mir der Traum unterbewusst vorgespielt. Bei sensationellen Gedächtnisleistungen geht es da darum, dieses Kopfkino aktiv zu gestalten.

Beliebt ist dabei die sogenannte Loci (Ort) -Methode, wo man im Kopf eine Reise an bekannte Orte macht. Etwa Füße, Knie, Hüfte, Bauchnabel, Schulter und so fort. An jedem dieser Orte geschieht etwas Verrücktes, das mit dem Gegenstand zusammenhängt, den man sich merken möchte. Wie im Traum verknüpft man also etwas bekanntes (der Fuß) mit etwas unbekanntem (z.B. ein zerplatztes Ei, weil du Eier kaufen möchtest). Je absurder das Bild, desto einprägsamer.

Nichts anderes geschieht in unseren Träumen. Im Wachzustand wäre ich garantiert nicht auf die Idee gekommen, in einem Zelt Fahrrad zu fahren. Aber man merkt es sich, wenn auch nur unterbewusst. Man weiß es ja selbst – die meisten Träume sind beim Aufwachen schon wieder längst verschwunden.

Heute werde ich nach Montélimar fahren, eine Strecke von etwa 70 km. Dort übernachte ich im Haus Delphine und ihrem Mann Tanguy, die im Vorort Bâtie-Rolland wohnen. Delphine ist die Tochter von Jean Luc und Chantal, die mich bereits in Annecy beherbergte haben. Leider wird keiner zu Hause sein, während ich da bin. Das bedeutet aber auch, dass ich das ganze Haus für mich habe.

Party!!!!

Eher nicht. Gut essen, ordentlich dehnen und früh schlafen ist das Motto.

12:00 Pont d’Espenel

Ich sitze auf einer Bank in einer Bushaltestelle und tue etwas was ich bisher noch nie getan habe. Ich habe Haferflocken in eine Plastiktüte gefüllt und sie mit Wasser übergossen.

Ich habe wirklich Hunger. Heute früh ist das Frühstück ausgefallen, und gestern Abend gab es nur ein bisschen Weißbrot mit Honig. Das ist von der Menge eindeutig nicht ausreichend, selbst wenn ich über 100 Gramm Honig verdrückt habe. Das ist die Folge, wenn die Läden über die Ostertage schließen, und ich nur einen begrenzten Vorrat mitnehmen kann.

Hunger konzentriert die Gedanken wie kaum ein anderes Mittel. Man hat nur noch eine Sache im Kopf: Essen!

Die Wasser-Haferflocken waren echt unappetitlich – nur mit Honig ging es.

Notiz: Immer was zum Süßen dabeihaben!

21:00

Heute war es wirklich schwer sich nicht ablenken zu lassen beim Fahrradfahren. Es ist erstaunlich, wie sich innerhalb eines Tages die Landschaft radikal verändert. Als ich den Forêt de Saou verlassen habe, die letzte wirkliche Hochebene, die ich durchquerte, befand ich mich mitten unter den Lavendelfeldern der Provence. Die Erde war nicht mehr dunkel, sondern rot.

Es roch überall nach Kiefern, die mit einem Schlag die Eichen- und Buchenmischwälder verdrängt hatten. Grüne Echsen huschten immer wieder über die sonnenverbrannten Straßen, und am dunkelblauen Himmel kreisten einsam die Bussarde.

Jeder Mangel, den ich in den letzten Ostertagen hatte, ist nun ausgeglichen. Ich habe zwei Salate gegessen, einen Apfel und eine Orange. Dazu noch ein halbes Baguette mit Honig und Feigenmarmelade. Ein Joghurt aus Schafsmilch war der Nachtisch. Jetzt ist der Bauch wieder ordentlich gefüllt, und ich liege gemütlich auf dem Sofa. Sofas sind eine wunderbare Sache!

In meinem Studentenzimmer hatte ich keines, und das habe ich wirklich oft vermisst. Es ist gut einen anderen Ort zum Gammeln zu haben als das Bett. Wenn ich am Tag 15 Stunden im Bett liege, an einem Ort, dann gibt das mir wahrlich kein gutes Gefühl. Das ist kein Leben für einen jungen Student!

Doch ich habe wirklich Studenten kennengelernt, die morgens gar nicht aus dem Bett aufgestanden sind. Sie haben stattdessen einfach ihren Laptop gegriffen, der auf dem Nachttisch lag, und haben bis spät nachmittags im Bett gearbeitet.

Eine solche Inaktivität lässt mir die Haare zu Berge steigen. Ich glaube darüber hinaus, dass es ungesund ist, den Ort der Erholung mit dem Ort der Arbeit so eng zu verknüpfen.

Deshalb, sogar in einem kleinen Zimmer, ist eine Einteilung der Bereiche nach Funktionen wichtig. Ein bisschen Ordnung sollte sein, und hilft, um sich nicht ablenken zu lassen.

Morgen fahre ich in das Rhonetal, und dort die Schlucht der Ardèche hinauf. Doch erstmal werde ich gut genährt meinen wohlverdienten Schlaf auskosten! Ein Schritt nach den anderen. Gute Nacht!

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