Tag 32: Flamingos und eine Diskussion über die Bildung

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Ein Ruhetag in Saint-Félix-de-Lodez.

9:50

Ich liege im Bett. Mein Fenster ist offen. Der Himmel ist blau, die Nadelbäume rauschen im Wind. Ich höre Motorräder. Ein paar Mal kräht ein Hahn. Vogelgezwitscher. Ich habe gut geschlafen und den Entschluss gefasst, eine Vokabelliste zu machen. Mir sind so viele unbekannte Wörter begegnet, dass die alle nicht mehr in meinen Kopf passen!

Heute haben wir die Camargues besucht, ein Gebiet, das für seine Vogelvielfalt bekannt ist. Die Camargues liegen etwa 1,5 Stunden Saint-Félix-de-Lodez entfernt, direkt am Meer. Zum ersten Mal auf meiner Tour hatte ich Strand unter den Füßen, und eine salzige Meeresbrise im Gesicht.

In den Camargues wurde mir erst richtig bewusst, dass ich schon recht weit im Süden bin. Flamingos („Flamants roses) en Masse!

Flamingos sind faszinierende Vögel, sie ziehen im Winter bis nach Afrika und leben fast so lange wie ein Mensch. In dem Vogelpark gab es viele Flamingos, die schon 40 Jahre oder älter waren. Kürzlich feierte in Berlin der Flamingo Ingo seinen 74. Geburtstag. Der älteste Flamingo ist sogar 83 Jahre alt geworden.

Interessanterweise sind Flamingos zu Beginn ihres Lebens gar nicht rosa. In dem Vogelpark liefen einige Flamingos herum, die schwarz-weiß gefiedert waren.

Wir fragten uns, ob das die besonders alten Vögel sind, bei denen die Farben schon verblasst sind. Oder vielleicht gar eine andere Sorte, schließlich gibt es sechs unterschiedliche Flamingoarten.

Doch dem ist nicht so! Die wirklich intensive rosa Farbe kommt erst mit der Geschlechtsreife, die zwischen dem 4. Und 7. Lebensjahr eintritt.

Aber wie entsteht eigentlich die rosa Farbe? Wie bei vielen Tieren, über die Nahrung. Flamingos essen viele Krustentiere, deren Schalen Carotin enthalten. Das ist der Stoff, den wir auch in Karotten vorfinden, und die orangene Farbe hervorruft.

Was ich in dem Vogelpark gelernt habe, kann ich mir gut merken – denn ich hatte Spaß beim Lernen.

„Leider ist die Schule oft anders, zumindest in Frankreich.“, sagt Véronique als wir aus dem Park gehen. Veronique ist sehr interessiert an Bildungsthemen, sie hat in dem Bereich viele Jahre gearbeitet.

„In unseren Schulen behandelt man die Kinder wie Maschinen.“, sagt sie.

„Du hast es erfasst!“, ruft Thomas, einer der Enkel.

„Wie lange hast du denn jeden Tag Schule?“, frage ich ihn.

„Bis 15:30!“

„Das geht eigentlich noch, finde ich. Ich dachte, dass man in Frankreich oft bis 5 Uhr in der Schule sitzt.“

„Ja, in den höheren Jahrgängen ist es auch öfter so.“, erzählt Véronique.

„Also in Deutschland hat man oft nur bis 13 Uhr oder 14 Uhr Schule. Ein oder zwei Mal in der Woche hat man auch mal länger Unterricht.“, sage ich.

Thomas und Simon fallen fast die Augen aus. „Was!“, rufen Sie.

„Das fände ich hier auch viel besser“, sagt Véronique. „Dann wäre wenigstens noch viel mehr Zeit für Sport. Die Franzosen sind im Schnitt viel zu sesshaft, bewegen sich überhaupt nicht genug. Das sagt auch Macron immer wieder.“

„Eines von Macrons Versprechen im Wahlkampf war, dass jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Sport getrieben wird in der Schule. Eine gute Idee finde ich.“, sagt Véronique.

Ich denke an meinen eigenen Sportunterricht. Meistens ging jeweils immer eine Viertelstunde für Umziehen, Aufbauen und Abbauen drauf.

Ich sage, „Mehr Sport ist grundsätzlich eine gute Sache. Aber man müsste dann jeden Tag eine Doppelstunde Sport haben. Da muss man dann im Gegenzug was anderes kürzen, oder der Schultag wird noch länger…“

Véronique nickt, „Ja, die Umsetzung wird man sich überlegen müssen. Den zusätzlichen Sport finde ich aber nach wie vor wichtig. Nach der Corona Krise liegt hier bewegungstechnisch viel im Argen. Die Kinder waren 2 Monate eingesperrt in der Wohnung. Das ist vor allem in den Großstädten, wo man meistens keinen Garten hat, der Horror gewesen. Meine Enkel haben zwei Monate lang die Wohnung nicht verlassen, kein einziges Mal. Für jede Bewegung außerhalb der Wohnung, war ein offizielles Dokument notwendig.“

„Das könnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, sage ich. So heftig war es in Deutschland zum Glück nicht.

Ich will aber noch etwas mehr erfahren, wie die Schule in Frankreich organisiert ist. Véronique erklärt mir die Grundzüge.

Die französische Grundschule dauert wie in den USA fünf Jahre. Nach der Grundschule, genannt „École primaire“, geht es aufs College. Dort verbringen die Schüler vier Jahre, die sechste bis zur neunten Klasse. Allerdings zählt man die Klassenstufen rückwärts: 6, 5, 4, 3. Die dritte Klasse, die troisième, entspricht der neunten Klasse in Deutschland. Hier wird am Ende eine Abschlussprüfung in Mathematik, Französisch, Erdkunde oder Geschichte und Kunst geschrieben.

„Schon interessant, dass es eine Prüfung in Kunst gibt“, kommentiere ich. „Offenbar nimmt dieser Bereich größeren Stellenwert ein als in Deutschland.“

Nach dem vierjährigen Collège, kommt das dreijährige „Lycée“. Es gibt Lycées, die eher beruflich orientiert sind und andere die allgemeinbildend sind. Am Ende steht jedenfalls das Abitur, das „Baccalauréat“, das man mit 17 oder 18 in der Tasche hat. Das haben auch 3 von 4 Franzosen.

Wichtig zu wissen ist, dass es in Frankreich private Schulen und öffentliche Schulen gibt, die allerdings beide vom Staat finanziell gleichermaßen subventioniert werden. Etwa 20% aller Schüler gehen auf Privatschulen.

„Warum gehen denn so viele Schüler auf Privatschulen?“, frage ich.

„Das hat vielfältige Gründe“, erklärt Véronique. Auf Privatschulen gibt es in der Regel ein besseres Familiengefühl, mehr Gemeinschaftssinn in der Schule. Das liegt daran, dass es meist weniger Schüler gibt, und diese auch gründlicher ausgewählt werden. Bei meinen Kindern hat sich der Direktor zum Beispiel eineinhalb Stunden Zeit genommen, um mich und die Kinder besser kennenzulernen und einzuschätzen.

Dadurch, dass die Privatschulen sozusagen Subunternehmer vom Staat sind, sodass dieser ihnen finanziell unter die Arme greift, kosten sie nur etwa 150 € im Monat pro Kind. Das ist schon einiges, aber überhaupt nichts im Vergleich zu komplett privaten Internaten (die es wie in Deutschland auch in Frankreich gibt, und immer beliebter werden unter zahlungswilligen Eltern).

Außerdem, und das ist wirklich nicht ganz unwichtig, wenn die Eltern arbeiten, fällt weniger Unterricht aus. Lehrer an öffentlichen Schulen in Frankreich dürfen nämlich streiken! Dann bekommt man schon auch mal mitten am Tag einen Anruf, die Schule sei ausgefallen, und die Eltern müssen dann von der Arbeit weg, um ihre Kinder abzuholen. An Privatschulen passiert das nicht. Die Lehrer an Privatschulen können nicht so einfach streiken.

Das hatte ich tatsächlich ganz vergessen. Dadurch, dass Lehrer in Deutschland verbeamtet sind, können Sie auch nicht streiken. In Frankreich nicht. Das Beamtentum hat schon Vorteile für den geregelten Schulablauf – auch wenn die Schüler es vielleicht gerne anders hätten…

„Aber wie ist es denn in Deutschland organisiert?“, fragt mich Véronique. Ich erzähle, dass nach der vierten Klasse sortiert wird in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Das findet wiederum Veronique ziemlich krass. Mit 10 Jahren zu entscheiden, ob ein Kind sein Abitur machen kann, hält sie für viel zu früh.

Natürlich gibt es die Möglichkeit, auch zwischen den Schuhen zu wechseln, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, erwähne ich. Aber erstmal gibt es die Trennung, und da kann es sein, dass man in ein Milieu gerät, dass einen nach oben oder nach unten zieht.

Was in Deutschland passiert ist natürlich eine sehr offensichtliche Selektion. Aber in den Vereinigten Staaten habe ich gesehen, dass es auch in einem Gesamtschulsystem eine Selektion gibt. Diese Selektion beruht auf dem sozioökonomischen Hintergrund der Eltern. Wer Geld hat, lebt in einer wohlhabenden Gegend. Dort werden entsprechend viele Steuern gezahlt. Da Schulen aus dem regionalen Steueraufkommen finanziert werden, haben Schulen in wohlhabenden Gegenden natürlich eine überlegene Ausstattung und eine bessere Lehre.

Ob du auf eine gute Schule gehst, entscheidet dann überhaupt nicht mehr deine akademische Fähigkeit. Sondern nur noch der Geldbeutel deine Eltern. In Deutschland kann man wenigstens argumentieren, dass bei der Selektion die akademische Leistung in der Grundschule einfließt. Allerdings spielen nicht-akademische Faktoren eine immer größere Rolle, insbesondere wie sehr Eltern ihr Kind auf einer bestimmten Schulform sehen wollen. Es sind eher die Bessergestellten, die ihr Kind trotz schlechter Leistungen auf das Gymnasium bringen. Auch hier, wie in den USA, eine sozioökonomische Selektion.

„Ja, auch in Frankreich gebe es eine solche Selektion“, erzählt Véronique. Man kann sein Kind frei auf jede Schule schicken, ist also regional nicht gebunden. Insbesondere die privaten Schulen können aber ihre Schüler sehr spezifisch auswählen, so dass es vor allem in den Städten große Unterschiede zwischen den Schulen gibt. Einige sind zu regelrechten Eliteakademien avanciert, suchen sich ihr Klientel auch entsprechend aus.

Ich fasse zusammen: so sehr man über Chancengleichheit in der Bildung diskutiert, es bleibt wohl ein Idealzustand, der nicht erreicht wird. Es gibt immer eine Selektion, ob direkt oder indirekt. Oft ist die indirekte Selektion sogar die gefährlichere, da sie nicht transparent ist.

In meinen Augen ist eine ideale Schule als Gesamtschule konzipiert. Als Startpunkt darf man gerne noch Jahrgänge haben, doch würde ich sogenannte Leistungs- und Förderklassen bilden – zusätzlich zu den normalen Klassen. Die 20 stärksten Schüler in Mathematik in einer Stufe bilden eine Klasse, die die Themen des darüberliegenden Jahrgangs bearbeitet. Die allerbesten Schüler können auch Themen von zwei oder drei Jahrgängen höheren Klassen bearbeiten – oder darüber hinaus.

Inhalte werden also nicht mehr nach Alter ausgesucht (das ist auch ziemlicher Unsinn, wenn man sich die Entwicklungsbandbreite von Kindern anschaut). Stattdessen sucht man die Inhalte nach den Fähigkeiten der Kinder aus. Wer besondere Begabungen hat, bekommt maßgeschneiderte Projekte zum Bearbeiten. Ebenso, wer Schwierigkeiten hat mit dem Lernen.

Da ich davon überzeugt bin, dass geistige und körperliche Bewegung Hand in Hand gehen, bräuchte es ein großes Spektrum an Angeboten, von Theater bis hin zu Schreinerei, von denen man einige auch über einen Zeitraum von einigen Wochen verpflichtend in den Unterrichtsplan integriert. Vielleicht entdeckt so der ein oder andere Schüler ein Hobby oder Talent, dass er sonst nie gefunden hätte.

Dass so etwas klappt weiß ich, denn viele dieser Ideen wurden an meiner Schule in Amerika schon umgesetzt. Klar ist aber auch, dass die Umgestaltung des Bildungssystems sicher nicht die Lösung für alle Probleme ist.

Viel wichtiger ist in erster Linie, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, sich zu bilden. Da sind wir in Europa im Vergleich mit vielen anderen Ländern gar nicht so schlecht dabei. Es fehlt an der ein oder anderen Stelle eher an der Eigeninitiative, die bestehenden Möglichkeiten auszunutzen. Wo Fähigkeiten und Interesse bestehen, fällt Wissen sowieso auf fruchtbaren Boden.

Mit dem Internet ist noch mal eine ganz neue Dimension der Bildung hinzugekommen. Eine Bildung, die nicht an einem bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, und einen bestimmten Lehrer gebunden ist.

In der Theorie zumindest, müsste die Bildung über das Internet also eine mächtige Gegenkraft zu der Selektion nach sozioökonomischen Mitteln im derzeitigen Bildungssystem sein. Wer ein Handy besitzt (und das ist fast jeder), hat Zugang zu den besten Lehrern der Welt. Zu didaktisch herausragend aufgearbeiteten Inhalten. Und das alles an einem Ort und zu einer Zeit, die man sich aussuchen kann.

Die einzigen Haken sind: Man muss selbst aktiv werden. Man muss wissen wonach man sucht. Und man braucht Selbstdisziplin.

Das sind große Haken. Aber auch große Möglichkeiten.

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